Prozessanwälte in England müssen "jeden Gast befördern". Barristers dürfen Mandanten also nicht ohne guten Grund ablehnen
Der Begriff "cab rank rule" bedeutet, dass ein englischer Prozessanwalt, also ein Barrister (für Solicitors gilt diese Regel nicht), verpflichtet ist, jedes Mandant anzunehmen, das ihm oder ihr angetragen wird, vorausgesetzt, dass die Mandatsanfrage:
- über einen Solicitor gestellt wird (Direktaufträge von Mandanten muss ein Barrister nicht annehmen)
- in das juristische Fachgebiet des Barristers fällt
- ein Gericht am Ort der üblichen Barrister-Anwaltstätigkeit betrifft (Anwalt in Manchester muss also nicht nach Cardiff fahren) und
- der Mandat bereit und in der Lage ist, den üblichen Stundensatz des Barristers zu zahlen.
Sinn und Zweck der "cab rank rule" in der Berufsordnung für englische Prozessanwälte
Barristers sind berufsrechtlich der Gerechtigkeit (justice) und einem diskriminierungsfreien Zugang zu anwaltlicher Vertretung (access to justice) verpflichtet. Gleich im ersten Absatz der Einleitung des "Bar Standards Board Handbook" steht daher:
"Everyone needs to be able to seek expert advice on their legal rights and obligations and to have access to skilled representation in the event of a dispute or litigation. Our system of justice depends on those who provide such services acting fearlessly, independently and competently, so as to further their clients’ best interests, subject always to their duty to the Court."
In der Praxis bedeutet dies zum Beispiel, dass ein Barrister oder eine Barristerin nicht ablehnen darf, einen Vergewaltiger oder Mörder zu verteidigen. Ebenso darf ein Barrister sich nicht weigern, einen homosexuellen Mandanten anzunehmen, weil der Barrister vielleicht streng orthodox religiös ist. Oder einen Mineralöl-Konzern in einem Wirtschaftsverfahren abweisen, weil der Barrister privat Mitglied einer grünen Ökologiepartei ist.
Hintergrund der Regel ist, dass ein Mandant Zugang zu einem guten anwaltlichen Vertreter haben soll. Ein Mandant, der ohnehin schon rechtliche Schwierigkeiten hat, insbesondere bei einem strafrechtlichen Vorwurf, soll nicht auch noch das zusätzliche Problem bekommen, dass ihm jeder prozessanwalt in England die Tür vor der Nase zuschlägt, weil der Barrister den Mandanten unsympathisch findet oder Angst vor negativer öffentlicher Meinung hat, etwa weil der Mandant eines Gewaltverbrechens angeklagt ist. Siehe zum Beispiel den Lucy Letby Fall.
Historische Beispiele von Verstößen gegen die Pflicht zur Mandatsannahme
Die Idee, dass ein Prozessanwalt in England jeden Mandanten annehmen muss, geht bis ins späte 18. Jahrhunderts zurück. Anwalt und Politiker Thomas Erskine war bekannt dafür, Radikale und Reformer vor Gericht zu verteidigen, etwa den wegen "Aufruhrs" (sedition) angeklagten Thomas Paine im Jahr 1792. Das machte Prozessanwalt Erskine unter seinen Kollegen und in der Gesellschaft nicht sehr populär, denn das englische Establishment befürchtete dass die Revolution von Frankreich nach England übergreifen könnte. Erskine pochte aber auf das Recht jedes Einzelnen, seine Regierung zu kritisieren und zu reformieren, und betonte die Pflicht eines Prozessanwalts, auch unpopuläre Fälle zu bearbeiten. Die persönliche Einstellung des Anwalts habe zurückzutreten.
Auch in jüngerer Zeit gab es ab und zu Fälle, bei denen Barrister aus persönlichen Gründen abgelehnt haben, einen Mandanten zu vertreten, etwa zur Zeit des IRA Terrorismus, als Criminal Defense Barrister sich weigerten, die angeblichen Terroristen "The Birmingham Six" zu vertreten (die verurteilt wurden, was sich dann viele Jahre später als Justizirrtum herausstellte). Oder 2006, als ein Barrister argumentierte, die Vertretung eines homosexuellen Mandanten widerspreche seinen christlichen Überzeugungen, Details dazu hier.
Verletzung der "cab rank rule" ist ein Verstoß gegen das anwaltliche Berufsrecht
Die Berufsorganisation der Barristers von England und Wales sieht solche Mandatsverweigerungen stets als Verstöße gegen das anwaltliche Berufsrecht, die Mit berufsrechtlichen Mahnungen oder Bußgeldern geahndet werden.
Siehe auch die deutliche gemeinsame Stellungnahme zur Notwendigkeit der Regel seitens der vier Bar Council Organisationen (Prozessanwaltskammern) von England & Wales, der Republik Irland, Nordirland und Schottland: www.barcouncil.org.uk/resource/cab-rank-rule-statement-of-the-four-bars.html
Eine ausführliche wissenschaftliche Abhandlung zur "Cab Rank Rule" und der Frage, ob diese heute noch zeitgemäß und gerechtfertigt ist, findet sich in diesem "Report for the Legal Services Board" hier: https://legalservicesboard.org.uk/wp-content/media/Cab-Rank-Rule_final-copy.pdf
Rule 29f des Bar Standards Board Handbook
Die moderne und aktuell gültige Version der "cab rank rule" steht in Rule 29 und 30 des Bar Standards Board Handbook (vergleichbar der deutschen Berufsordnung für Rechtsanwälte), ergänzt durch Richtlinien zur Rule (guidance).
Die englische Anwaltspraxis der Barrister
Im tatsächlichen Berufsalltag muss sich ein englischer Prozessanwalt schon sehr ungeschickt anstellen, um eine Rüge seitens der anwaltlichen Berufsaufsicht einzufangen. Er oder sie kann eine unliebsame Anfrage in der mit dem Argument hohe Arbeitsbelastung abwehren. So gut die Regel auch gemeint ist: Welcher Mandant will schon einen Prozessanwalt, der eigentlich keine Lust auf den Fall oder gar eine Aversion gegen den Mandanten als Person hat.
Weitere Informationen zum Zivilprozess und zum anwaltlichen Berufsrecht in England
- Solicitors, Barristers und Solicitor Advocates – wer darf eigentlich was?
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Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl ist seit gut 25 Jahren Experte für deutsch-englisches Recht. Er berät und vertritt deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatpersonen in grenzüberschreitenden Rechtsfällen, insbesondere bei deutsch-britischen Wirtschaftsstreitigkeiten, Scheidungen, komplexen Erbfällen und internationalen Gerichtsverfahren. Er ist Autor des Praxishandbuchs Der Zivilprozess in England.
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