Anwälte arbeiten in England bis Mitte November eines jeden Jahres nur für die Kanzleikosten, erst danach für sich selbst
Die altehrwürdige THE LAW SOCIETY von England & Wales gibt seit mittlerweile 23 Jahren eine Studie zur Wirtschaftlichkeit von Solicitor Firms in Auftrag, die unter anderem Umsatz, Ertrag und Profitabilität der englischen Anwaltskanzleien misst, genannt "The Financial Benchmarking Survey". Hierfür erhebt die damit beauftragte Hazlewood LLP Finanzdaten von aktuell 147 Solicitor Firms in England and Wales, die zusammen ein Honorarvolument von 1,5 Milliarden Pfund erwirtschaften, darunter natürlich die Top-Kanzleien des Londoner Magic Circle, aber auch kleine Kanzleien (high street law offices) und Einzelanwälte (sole practitioners) in der Provinz: www.lawsociety.org.uk/topics/research/financial-benchmarking-survey-2024
Kanzlei-Overhead im Durchschnitt bei 89 Prozent!
Nach der aktuellen Studie 2023/2024 arbeitet ein englischer "Fee Earner" (anwaltlicher Berufsträger) pro Jahr zehn-einhalb Monate nur für die Kosten, also um den break even point zu erreichen. Erst danach, also die letzten sechs Wochen des Jahres, arbeitet die Anwältin oder der Anwalt für sich selbst. Anders ausgedrückt: Der durchschnittliche Overhead eines englischen Solicitors liegt bei 89%. Nochmals anders: Die Profitabilität ist bei 11%.
Aus deutscher Sicht erstaunlich: Auf der Website der Law Society wird das mit keinem Wort als außergewöhnlich teuer, unwirtschaftlich oder betrüblich kommentiert. Im Gegenteil ist der Tenor des Beitrags diesbezüglich eher positiv. Man freut sich über mehr Umsatz. Ein Overhead von fast 90%? Ist halt so. What can you do?
Schwer zu glauben. Würde ein deutscher Rechtsanwalt dafür morgens die Kanzlei-Kaffeemaschine einschalten? Eher nicht. Die durchschnittliche Profitabilität pro Anwalt liegt in Deutschland bei plus/minus 50%. Ist der Overhead der Kanzlei dauerhaft bei mehr als 70%, dann macht der deutsche Anwalt irgend etwas grob falsch (Sondereffekte wie besonders teure Werbekampagnen in einem Kalenderjahr mal ausgenommen). Englische Anwälte wären dagegen bei einer Profitabilität von 30% oder mehr absolute Superstars.
Gründe für die unterschiedliche Profitabilität von Anwaltskanzleien in Deutschland und England
Woran liegt das? Nun ja: Allein die Berufshaftpflichtversicherung für Rechtsanwälte (professional indemnity insurance) ist in England 15-20 Mal so teuer ist wie in Deutschland. Ein Einzelanwalt mit durchschnittlichem Risikoprofil zahlt in England gerne 25.000 Pfund (knapp 30.000 Euro) oder mehr für seine Berufshaftpflichtversicherung. In Deutschand in aller Regel erheblich weniger als 2.000 Euro. Hinzu kommen deutlich höhere Miet- und Personalkosten, insbesondere in Großstädten wie London oder Manchester. Drittens muss man berücksichtigen, dass englische Solicitors "nur" außergerichtlich agieren. Die hochpreisige Vertretung vor Gericht übernehmen die Barrister, die oft den drei- bis vierfachen Stundensatz eines Solicitors abrechnen. Die "Sahne" der Anwaltsvergütung wird also oben von den Barristers abgeschöpft. Und schließlich herrscht in vielen Rechtsgebieten (wie z. B. Conveyancing) ein extremer Preisdruck zwischen Solicitors durch Kostentransparenz, da diese ihr Vergütung (Stundensätze) offen legen müssen (etwa auf der Kanzleiwebsite). Die Konkurrenz sieht also, was der Anwalt drei Büros weiter für eine bestimmte Dienstleistung berechnet.
Hier weitere Details zu den Anwaltshonoraren in England, die in aller Regel nach Zeitaufwand mit Stundensätzen berechnet werden, da es in UK keine Anwaltsvergütungsordnung wie das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) gibt:
Aktuelle (Stand 2024) Informationen zu durchschnittlichen Umsätzen englischer Anwaltskanzleien hier: www.clio.com/uk/blog/average-law-firm-revenue/
Weitere Erkenntnisse der Studie über die Arbeitsrealität englischer Rechtsanwälte
Die Hazlewoods-Studie zeigt übrigens auch, dass die durchschnittliche Zahl der abrechenbaren Stunden pro Jahr ("chargeable hours") pro Fee Earner mittlerweile auf 793 gesunken sind, obwohl traditionell als übliche Hausnummer von abrechenbaren Stunden, die angestellte Anwälte jedenfalls in Großkanzleien mindestens "schaffen müssen", immer 1.000 bis 1.100 kolportiert wurden. Da schlägt wohl die Gen-Z plus Covid zu. Von den heutzutage als absurd erscheinenden 1.800 bis 1.900 billable hours ganz abgesehen, die US-Law Firms in Großstädten als Ziel vorgeben (in John Grisham Romanen auch gerne mal 2.400 billable hours pro Jahr). Solche Zahlen dürften in Post-Covid-Zeiten aber auch in den USA heutzutage passé sein.
Mehr zum englischen Anwaltsrecht und zur englischen Zivilprozessordnung
Die weiteren Besonderheiten des Anwaltsberufsstands in England (Rollenverteilung zwischen Solicitor und Barristerer, übliche Stundensätze, Kostenerstattung bei Zivilverfahren usw.) erkläre ich auf dem Blog Cross Channel Lawyers und natürlich in meinem Praxishandbuch "Der Zivilprozess in England" (CH Beck Verlag).
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