14.10.2024 |

Kennt das englische Erbrecht einen Pflichtteilsanspruch?

Der "Inheritance Act Claim" im Erbrecht von England ist teils stärker, teils schwächer als der deutsche Pflichtteil

Bei oberflächlicher Recherche liest man häufig: Common Law Rechtsordnungen wie Großbritannien oder USA kennen keinen Pflichtteilsanspruch. Nun, das ist insofern richtig, als es für Abkömmlinge (Kinder, Enkel) in aller Regel keinen automatischen Pflichtteilsanspruch in Form einer festen Quote am Nachlass gibt. Wurde ein Ehegatte oder naher Angehöriger enterbt, lohnt sich aber dennoch ein genauerer Blick.

So kann bei internationalen (deutsch-britischen oder deutsch-amerikanischen) Familien das deutsche Erbrecht manchmal doch durch die Hintertür anwendbar sein, nämlich dann, wenn der Verstorbene Immobilienvermögen in Deutschland (oder Frankreich, Italien, Spanien etc.) besaß. Denn das US-amerikanische bzw. englische Erbrecht verweist für Immobilienvermögen (immovables) meist auf das Erbrecht am Ort der Belegenheit der Immobilie (lex rei sitae). Stirbt also jemand in Florida, Kalifornien oder Texas, der jedoch ein Haus oder eine Eigentumswohnung in Deutschland besaß, dann verweist das Erbrecht von Florida, Kalifornien usw. für diese Immobilien auf das Erbrecht von Deutschland, inklusive der deutschen Pflichtteilsansprüche! Details dazu in diesem Beitrag: www.cross-channel-lawyers.de/deutscher-pflichtteil-auch-wenn-erblasser-im-ausland-lebte/

Enterbte Ehepartner haben meist doch eine Art Pflichtteilsanspruch

Aber auch ohne eine solche lex rei sitae Verweisung auf das deutsche Erbrecht, also nach den reinen Common Law Regeln selbst, gelangt man in vielen Fällen doch zu einem Anspruch für den Enterbten.

Selbst in den USA, in denen der Erblasser weitgehend frei über seinen Nachlass verfügen kann, hat ein enterbter Ehegatte in den meisten Bundesstaaten ein sog. "Right of Election", kann also beim Nachlassgericht einen Antrag auf den "elective share" stellen. Wie hoch dieser Anspruch im Einzelfall ausfällt, hängt vom konkreten Erbrecht des jeweiligen US-Bundesstaates ab. Der überlebende Ehegatte kann in den meisten Fällen jedenfalls das Wohnhaus beanspruchen. Mehr zum Pflichtteilsanspruch in den USA hier: www.cross-channel-lawyers.de/das-usa-erbrecht-kennt-keinen-pflichtteilsanspruch-blodsinn/

Die Kinder kann man in den USA allerdings tatsächlich vollständig enterben.

Quasi-Pflichtteilsanspruch in England und Wales?

Nach dem Erbrecht von England und Wales (in Schottland gelten wieder andere Erbrechtsregeln) existiert zwar kein automatisch immer bestehender Pflichtteilsanspruch, aber bestimmte Personen können nach dem Inheritance (Provision for Family and Dependants) Act 1975 unter gewissen Voraussetzungen einen Zahlungsanspruch gegen den Estate, also das Nachlassvermögen geltend machen. Laut Section 1 des Inheritance Act 1975, wie er in der Praxis bezeichnet wird, gehören zu den Anspruchsberechtigten vor allem „dependents“ und „cohabitees“, also Angehörige, aber auch unverheiratete Lebenspartner. Insofern ist der englische Inheritance Act sogar weiter als der deutsche Pflichtteilsanspruch, der ja nur dem Ehegatten, den Abkömmlingen und den Eltern des Verstorbenen zusteht (den Eltern nur, wenn keine Abkömmlinge existieren).

Englischer "Pflichtteil" sogar für Personen, die nicht verwandt sind

In der Praxis lösen bei Erbfällen in England vor allem die Konstellationen Streit aus, bei denen jemand einen Inheritance Act Claim geltend mach, der mit dem Erblasser gar nicht verwandt war, für den der Erblasser aber regelmäßig Zahlungen geleistet hat. Zum Beispiel ein Stiefkind des Erblassers oder - solche Fälle gibt es - eine heimliche Geliebte, für die der Verstorbene zum Beispiel mit Miete bezahlt hat. Die Norm, auf die sich solche Anspruchsteller berufen, ist Section 1 (1) (e) des Inheritance Act 1975:

"any person (not being a person included in the foregoing paragraphs of this subsection) who immediately before the death of the deceased was being maintained, either wholly or partly, by the deceased;"

Durch die Mietzahlung oder einen sonstigen regelmäßigen finanziellen Zuschuss hat der Erblasser diese Person "partly maintained", also teilweise unterhalten. Man kann sich vorstellen, wie die Erben es finden, wenn die geheime Gebliebte nun Geldansprüche gegen den Nachlass geltend macht. Auf die Moralvorstellung der Beteiligten kommt es dabei aber nicht an. Für den Anspruch ist allein relevant, ob die Anspruchstellerin sich darauf verlassen durfte, auch weiterhin finanziell unterstützt zu werden. Anders formuliert: Es muss "unvernünftig" erscheinen, dass der Erblasser diese Person in seinem Testament nicht bedacht hat.

Bei der Frage, ob und wie viel ein Anspruchsteller erhält, hat das englische Gericht - wie so häufig - einen extrem weiten Ermessenspielraum "what is fair and reasonable".

Weitere Informationen zum Erbrecht von England und Wales sowie Schottland

Kategorie: ErbrechtProzessrechtZivilprozesse

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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