25.09.2024 |

Verlesung des Strafurteils wird in England auf YouTube übertragen

Englische Strafrichter verlesen das Strafurteil vor laufender Kamera und stellen den Volltext online

Wer in England wegen einer schweren Straftat verurteilt wird, kann spätestens mit dem Urteilsspruch auf keinerlei Rücksichtnahme seitens der britischen Justiz auf informationelle Selbstbestimmung und auf Schutz seiner persönlichen Daten mehr hoffen. Solche schweren Straftatten (serious criminal offences) werden, wenn der Angeklagte sich nicht ohnehinschuldig bekennt oder auf sein recht auf einen Geschworenenprozess verzichtet, in England vor dem Crown Court verhandelt, den es über England und Wales verteilt an rund 70 Gerichtsorten gibt, der berühmteste davon der Central Criminal Court in London, besser bekannt als "Old Bailey" (www.cityoflondon.gov.uk/about-us/law-historic-governance/central-criminal-court).

Schuldspruch durch die Jury. Verurteilung und Strafzumessung durch den Richter

Kommt es zu einem Jury-Prozess vor dem Crown Court, findet die Verurteilung in zwei voneinander getrennten Stufen statt.

Über die Frage von Schuld oder Unschuld des Angeklagten auf Tatsachenebene befindet in solchen Verfahren vor dem Crown Court in der Regel eine Jury aus zwölf Geschworenen. Die Jury ist der sogenannte "fact finder", sie entscheidet allein über Tatsachen, also einen bestimmten Lebenssachverhalt. Zum Beispiel: Hat der Angeklagte dem Opfer das Messer in den Bauch gestoßen? Oder: Hatte dewr Angeklagte zur Tatzeit 2,1 Promille Alkohol im Blut?

Die Entscheidung, welche Rechtsfolgen daraus resultieren und wie hoch die Strafe dafür ausfällt, das sog. "sentencing", ist dann in einem zweiten Schritt die Aufgabe des Strafrichters oder der Strafrichterin, wobei in England selbst bei den schwersten Delikten wie Mord ein einzelner Judge am Crown Court das Urteil fällt, kein Richtergremium.

Auf English lautet die Unterscheidung:

The jury are responsible for decisions of fact; the judge for decisions of law.

Wer sich für die Details interessiert, dem sei das interne Handbuch der englischen Justiz für Strafrichter empfohlen, das Crown Court Comendium www.judiciary.uk/guidance-and-resources/crown-court-compendium/ Die beiden Teile der Handlungsanweisungen für englischen Strafrichter ergeben zusammen allerdings rund 800 Seiten, sind also nichts für flüchtige Leser.

Der Urteilsspruch durch den Judge

Das Strafurteil selbst wird in einem gesonderten Termin, also nicht unmittelbar nach dem Schuldspruch durch die Jury, sondern erst ein paar Tage oder Wochen später, durch den Judge verlesen. Der Richter muss ja erst alle Aspekte abwägen und das Strafmaß ermitteln. Die Urteilsverkündung, genannt, "sentencing remarks", ist vom Richter in der Ich-Form ausformuliert und direkt an den Angeklagten, nun Verurteilten, adressiert. Anders als in Deutschland heißt es also nicht neutral und anonym formuliert: "Das Gericht befindet den Angeklagten für schuldig, xyz getan zu haben." Sondern es wird zwischen dem Verurteilten und dem ihn verurteilenden Richter sehr persönlich.

Als Beispiel hier Auszüge aus der 13-seitigen Urteilsverkündung in einem echten Fall (https://www.judiciary.uk/judgments/r-v-daniel-hardcastle/):

"1. Daniel Hardcastle, you are now 31 years old. I have to sentence you for the murder of your 2 year old son, Damion, of which you have been found guilty by the jury.
... [es folgt eine sehr ausführliche Zusammenfassung des Sachverhalts und der Schuldzumessungsgründe] ...
62. Daniel Hardcastle, stand up please.
63. For the murder of your son Damion I sentence you to life imprisonment with a minimum term of 22 years. Go with the dock officer please."

Das Urteil wir im Volltext im Internet veröffentlicht

Diese "sentencing remarks", also der Urteilsspruch mit den Strafzumessungserwägungen wird in England - ohne jede Anonymisierung oder Schwärzung - für jedermann offen zugänglich im Internet veröffentlicht, wie im Beispiel des Kindermörders Daniel Hardcastle: https://www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2024/09/04ZL2913723-R-v-Daniel-Hardcastle_Sentencing-Remarks-of-Hill-J-11.7.24.pdf

Urteilsverkündung auf YouTube via SkyNews oder BBC

Erweckt der Fall das besondere Interesse der britischen Medien, was bei solchen schweren Verbrechen fast immer der Fall ist, wird die Verlesung der "sentencing remarks" durch den Richter zusätzlich auch noch von einem UK Fernsehsender aufgezeichnet und - für immer - auf YouTube eingestellt. Dies ist seit Juli 2022 als "broadcasting sentencing remarks" unter dem Grundsatz "open justice" ausdrücklich erlaubt https://www.judiciary.uk/how-the-law-works/sentencing-2/ und SkyNews hat hierfür einen eigenen YouTube Kanal eingerichtet: https://www.youtube.com/channel/UCF3HqeLrCkZgARQfyqj1m-g

Als Beispiel für eine solche Urteilsverkündung auf YouTube sei auf den berühmt-berüchtigten Fall der angeblichen Serien-Babymörderin Lucy Letby verwiesen. Diese wurde insgesamt zu 15 mal Lebenslänglich verurteilt, weil Sie - laut Jury - auf der Frühgeborenenstation sieben Babys ermordet hat und es bei weiteren sieben Babys versucht hat, bei einem der Babys zwei Mal, somit 15 mal lebenslänglich Gefängnis. Seit 2023 mehren sich aber die Stimmen, die das Urteil für einen krassen Justizirrtum halten und für sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens einsetzen. Zu den Kritikern des Urteils gehören nicht nur True Crime Blogger, sondern auch hochkarätige britische Politiker wie David Davis (www.independent.co.uk/news/uk/crime/lucy-letby-david-davis-tory-mp-innocent-appeal-b2605767.html) und Intenllektuelle wie Peter Hitchens (https://youtu.be/EgVPrM4kacc). Es wird spannend sein zu beobachten, wie die englische Strafjustiz mit der Kritik und dem wachsenden Druck auf eine erneute Untersuchung des Verfahrens umgeht.

Hier aber die Verlesung der beiden Urteile gegen die angebliche Kindermörderin Lucy Letby:

Experte zum englischen Strafrecht und Strafprozessrecht

Der Autor, Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl, berät und vertritt seit 25 Jahren Mandanten in deutsch-britischen Rechtsfällen.

Kategorie: StrafrechtStrafverfahrenCrown CourtLucy Letby

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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