24.07.2024 |

Darf man Zeugen für die Gerichtsaussage coachen?

Die professionelle Vorbereitung von Zeugen für ihre Aussage im Zivilprozess

Oft hängt der Ausgang eines Zivilprozesses einzig und allein davon ab, was ein Zeuge vor Gericht aussagt und vor allem auch wie überzeugend die Aussage wirkt. Hat der Zeuge die relevanten Fakten parat? Wie ist die Körpersprache? Nimmt der Zeuge Augenkontakt auf? Verhaspelt er sich aus Nervosität und wirkt seine Aussage daher unglaubhaft, weil das Gericht möglicherweise denkt, dass die Erinnerung verschwommen ist. Ist der Zeuge sehr emotional, zum Beispiel aggressiv, und wirkt er daher parteiisch und somit unglaubwürdig? Stichwort "Belastungseifer".

In 25 Jahren Berufserfahrung als Prozessanwalt habe ich hier so manche Überraschung erlebt. Zeuginnen und Zeugen, die im Vorgespräch in der Kanzlei noch völlig souverän, ruhig und überzeugend die Fakten geschildert hatten, erlitten im Gerichtssaal plötzlich einen Blackout, konnten sich (wirklich) nicht mehr genau erinnern, verwechselten Daten oder waren zumindest so nervös, dass die Zeugenaussage als unglaubhaft ankam bzw. vom Gegneranwalt zerpflückt werden konnte.

Selbst juristische Profis wie Anwälte und Richter wissen, wenn sie schon einmal privat in der Position waren, dass es keine angenehme Situation ist, als Zeuge vor Gericht aussagen zu müssen. Eine gewisse Grundnervosität ist kaum vermeidbar, auch wenn man faktensicher ist und die prozessualen Abläufe aus der eigenen beruflichen Tätigkekit bestens kennt. Ist man dann aber einmal selbst als Zeuge geladen und wartet eine Stunde auf dem Gerichtsflur, bis man in den Saal gerufen wird, dann steigt trotzdem der Blutdruck, auch wenn man schon hunderte Male als Anwalt oder Richter eine Zeugenbefragung erlebt hat. Umso stressiger und gegebenfalls auch persönlich belastend ist es für solche Zeugen, die wenig oder keine Gerichtserfahrung haben.

Ist es überhaupt erlaubt, Zeugen vorzubereiten und zu coachen?

Hier gibt es, sogar unter Anwälten, viele Mythen und Missverständnisse. Manche deutsche Rechtsanwälte trauen sich so gut wie gar nicht, mit Zeugen zu sprechen, um sich nicht dem Vorwurf der "Zeugenbeeinflussung" auszusetzen. Um es ganz klar zu sagen: Das ist absoluter Unsinn. Selbstverständlich darf ein Anwalt in der Prozessvorbereitung mit einem Zeugen sprechen (wenn dieser dazu bereit ist). Man darf den Zeugen auch darauf vorbereiten, wie der Gerichtstermin ablaufen wird, welche Fragen ihn voraussichtlich erwarten und wie die Gegenseite möglicherweise versuchen wird, den Zeugen zu verunsichern oder in Widersprüche zu verwickeln. Man darf dem Zeugen auch erklären, was rechtlich relevant ist und was nicht, welche Unterlagen er oder sie mitbringen sollte und dass man sich als Zeuge natürlich Daten und Eckpunkte als Gedächtnisstütze auf einem Zettel notieren und mitbringen darf. All das ist absolut zulässige Vorbereitung eines Zeugen. Aus meiner Sicht ist es nicht nur zulässig, sondern sogar anwaltliche Pflicht, eine Zeugin oder einen Zeugen nicht ahnungslos und nervös in den Gerichtssaal marschieren zu lassen.

Was man natürlich nicht darf, ist den Zeugen zu einer inhaltlich falschen Aussage zu verleiten. Das kann unter mehreren Gesichtspunkten strafbar sein und zivilrechtlich als Beihilfe zum Prozessbetrug Schadensersatzansprüche auslösen. Gegen das anwaltliche Berufsrecht würde man mit einer solchen Verleitung zur Falschaussage natürlich auch verstoßen und damit seine Anwaltszulassung gefährden. Aber darum geht es in bei der zulässigen Zeugenvorbereitung (witness preparation, witness coaching) nicht! Dieser Beitrag behandelt das Thema, Zeugen optimal zu präparieren, den richtigen Sachverhalt vollständig, präzise und überzeugend vorzutragen. Also nochmals: Selbstverständlich darf man zu diesem Zweck mit Zeugen im Vorfeld der Verhandlung sprechen, bei Zeugen von zentraler Bedeutung für den Prozessausgang muss man es nach meiner Überzeugung sogar, wenn man seinen Job als Prozessanwalt ernst nimmt.

Unterschiede der Zivilprozessregeln in USA, England und Deutschland beim Zeugenbeweis

Wenn ich Mandanten aus USA in einem deutschen Zivilverfahren vertrete, verstehen diese ohnehin nicht, wie "lasch" eine Zeugenvernehmung in Deutschland vor sich geht (keine Vereidigung, kein Kreuzverhör etc.). In Zivilprozessen in den USA ist es ganz selbstverständlich, dass Zeugen intensiv auf ihre Aussage vorbereitet werden, die Fragen, die der "eigene" Anwalt stellt also minutiös durchgesprochen und - bei high stake lawsuits - sogar in einem nachgestellten Gerichtssaal (mock trial setting) "geprobt" werden. Nicht nur, was der Zeuge inhaltlich antwortet, sondern auch wie er oder sie es sagt, wird in den USA einstudiert, was natürlich vor allem daran liegt, dass in USA die psychologische Wirkung auf die Geschworenen (jury) prozessentscheidend ist. Sympathie oder Antipathie spielen hier eine große Rolle, auch wenn das offiziell keiner zugibt. Zudem werden Zeugen, was sogar noch wichtiger ist, auf das Kreuzverhör durch den Gegneranwalt vorbereitet. Hier liegt die Kunst darin, vorherzusehen, welche Fragen die Gegenseite stellen wird und den Zeugen auch hier darauf vorzubereiten, wie er oder sie am besten reagieren soll. Ein Kreuzverhör in den USA kann sehr konfrontativ werden. Anwälte coachen ihre Zeugen deshalb intensiv darin, sich nicht provozieren zu lassen, also nicht laut oder sarkastisch zu werden, sondern ruhig und sachlich zu antworten. Soviel zu den USA.

In Deutschland verläuft die Zeugenvernehmung bekanntlich völlig anders. Das Gericht befragt den Zeugen und zwar in aller Regel mit sogenannten "offenen Fragen", also etwa: "Woran erinnern Sie sich noch im Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall am ....?" Der Zeuge kann (und soll) in Deutschland also seine Erinnerung in eigenen Worten und nach eigneer Strukturierung erzählen, ohne von einem Anwalt Schritt für Schritt durch den Sachverhalt "geführt" zu werden. Laut Erkenntnissen der psychologischen Forschungen führen solche offenen Fragen zu besseren, sprich wahrheitsgetreueren Schilderungen durch einen Zeugen als die Methode punktueller Einzelfragen. Das sind völlig unterschiedliche Herangehensweisen und Rechtstraditionen beim Thema Zeugenbeweis.

Zeugen in Deutschland sind also "freier" bei der Darstellung ihrer Erinnerung. Das ist bei unsicheren und unvorbereiteten Zeugen aber nicht unbedingt ein Vorteil, weil diese ohne ein Gerüst von konkreten Fragen oft - im wahrsten Sinne - nicht wissen wo sie anfangen sollen. Viele Zeugen wissen auch nicht, worauf es rechtlich ankommt. Sie erzählen daher ausufernd irrelevante Hintergründe. Der Klassiker: Wer mit wem in der Familie seit vielen Jahren zerstritten ist und warum. Für de Zeugen ist das wichtig, für das Gericht ist es meist völlig egal. Stoppt die Richterin oder der Richter den Zeugen dann mit "Die Familienbeziehungen tun hier nichts zur Sache", wird der Zeuge nervös, weil er oder sie sich gemaßregelt fühlt. Manche sind dann auch eingeschnappt und werden wortkarg. Es ist daher besser, wenn ein Zeuge vorher selbst in etwa weiß, worauf es vor Gericht ankommt. Fazit: Eine gute Vorbereitung von Zeugen ist im Interesse aller Beteiligten sinnvoll.

Vorbereitung deutscher Zeugen auf einen Zivilprozess in England

Noch komplexer wird es, wenn der Zeuge ein "Auswärtsspiel" hat, wenn also etwa ein deutscher Zeuge in einem Wirtschaftsprozess vor dem High Court in London aussagen muss. Zu den üblichen Stressfaktoren, mit denen ein Zeuge im Zivilprozess zurecht kommen muss, kommen dann noch: Anreise, fremdes Umfeld, Unkenntnis der englischen Zivilprozessregeln und Befragung in einer Fremdsprache. In 25 Jahren Anwaltstätigkeit habe ich so manchen CEO, Geschäftsführer oder gestandenen deutschen Mittelständler erlebt, der überzeugt war, dass er gut Englisch spricht und sein Business beherrscht, dann aber von der Situation am High Court in London völlig übefordert war.

Man muss sich klar machen, dass die Zeugenbefragung in einem englischen Zivilprozess, auch in Wirtschaftsverfahren, sofort mit dem Kreuzverhör durch den gegnerischen Barrister beginnt. Denn die eigentliche Zeugenaussage wird vorher schriftlich eingereicht und wird als bekannt zugrunde gelegt. Anders als in USA und in Deutschland hat der Zeuge vor einem Zivilgericht in England also keine "Aufwärmphase", in der er oder sie den Sachverhalt aus eigener Sicht darlegt. Nein, es geht sofort in die konfrontative Kreuzverhörphase. Das heißt, ein mehrere Jahre in Zeugenbefragung rhetorisch ausgebildeter Barrister in schwarzer Robe und Pferdehaarperücke stellt ziselierte Fragen, mit hoher Wahrscheinlichkeit in snobistischem Oxbridge-Englisch. Als Zeuge steht (!) man während der gesamten Befragung in einem altertümlichen Holzverschlag (witness box) in einem historischen Gebäude und soll (wenn man aus Arroganz auf einen Übersetzer verzichtet hat, denn man kann ja schließlich Englisch) diesem englischen Prozessanwalt in einem Spezialthema mich Fachterminologie spontan Rede und Antwort stehen. Das geht ohne Vorbereitung und Training fast immer schief. Die meisten deutschen Zeugen haben ja keine Vorstellung, was sie in der Gerichtsverhandlung in England erwartet und sind daher in der konkreten Situation meist völlig überfordert. Das gibt ein CEO oder 65jähriger Mittelständler aber nicht zu. Stattdessen wird er laut oder gibt pampige Antworten, was vor einem englischen Gericht wiederum ganz schlecht ankommt. Denn oberste Prinzipien sind dort Sachlichkeit, Contenance und Reasonability.

Praxistipps für das Coaching deutscher Zeugen für Verhandlungen vor dem High Court

Ein Zeuge aus Deutschland muss wissen, wie die Zeugenbefragung im "trial" abläuft, vor allem, dass er sofort ins Kreuzverhör genommen wird. Um darauf vorbereitet zu sein, muss er seine schriftliche Zeugenaussage vor der Verhandlung noch einmal (besser mehrfach) intensiv gelesen haben, um seine Einnerung aufzufrischen. Bei Punkten, bei denen sich der Zeuge nicht mehr ganz sicher ist, sollte er genau das sagen: "To the best of my knowledge..."

Auch wenn der deutsche Zeuge davon überzeugt ist, dass er oder sie großartiges Englisch spricht, empfehle ich dringend, auf einem Dolmetscher zu bestehen. Dies verschafft dem Zeugen nämlich die doppelte Überlegungszeit. Selbst wenn der Zeuge die Kreuzverhörfrage des Barristers auf Englisch bereits perfekt verstanden hat, kann der Zeuge die Zeit, während der Dolmetscher spricht, zum Nachdenken über die beste Antwort nutzen. So machen das Diplomaten und Staatschefs seit Jahrhunderten. Vladimir Putin versteht und spricht perfekt deutsch, lässt sich bei Staatsbesuchen trotzdem alles übersetzen und antwortet auf russisch. In deutsche-britischen Gerichtsverfahren, vor allem in Wirtschaftsprozessen, verschenken viele Unternehmer und Manager diesen taktischen Vorteil aus kontraproduktivem Ego, d.h, weil sie am High Court ihre guten Englischkenntnisse unter Beweis stellen wollen.

Details zum Zeugen- und Sachverständigenbeweis im Zivilprozess in England

In meinem Praxis-Handbuch "Der Zivilprozess in England" lege ich einen Schwerpunkt auf das Beweisrecht, da dieses viele Prozesse entscheidet. Das Buch behandelt die Fragen, ob ich als deutscher Zeuge überhaupt gezwungen werden kann, am englischen Gericht auszusagen (meist nein!), wie ich mich darauf vorbereite, wenn ich freiwillig aussagen will, warum die schriftliche Fixierung meiner Zeugenaussage (written witten statement) so einen hohen Stellenwert hat und wie ich mich gegenüber einem aggressiv fragenden Barrister im Kreuzverhör verhalte.

Zivilprozess England

Als internationaler Prozessanwalt berate und vertrete ich seit 25 Jahren in anglo-deutschen Zivilprozessen, insbesondere Wirtschaftsverfahren. Ich coache Unternehmer, Manager und Zeugen in deutschen sowie grenzüberschreitenden Gerichts- und Schiedsverfahren. Ferner unterstütze ich Rechtsabteilungen (Inhouse Counsels) bei der Vorbereitung auf internationale Rechtsstreitigkeiten.

Kategorie: ProzessrechtWirtschaftsrechtZivilrecht

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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