04.08.2024 |

Die Rechtsquellen des englischen Vertragsrechts

Ein kurzer Überblick

Wer sich im deutschen Vertragsrecht kundig machen will, schaut ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das für Handelsgeschäfte durch das Handelsgesetzbuch (HGB) komplettiert wird. Um die §§ von BGB und HGB in der Praxis anzuwenden, kommt man zwar nicht darum herum, Fachliteratur und vor allem Rechtsprechung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Die gesetzlichen Bestimmungen bleiben dabei aber immer der Ausgangspunkt und bilden auch mit Blick auf die Wortlautgrenze bei der Auslegung (sieht man einmal von der Rechtsfortbildung in Form analoger Anwendung und teleologischer Reduktion einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen ab) den äußeren Rahmen der Rechtsanwendung.

Ganz anders das englische Vertragsrecht, bei dem nicht weniger als drei verschiedene Rechtsquellen ins Spiel kommen: Neben dem allgemeinen Fallrecht der Gerichte (das sog. common law im engeren Sinne) und dem ebenfalls von den Gerichten kreierten Billigkeitsrecht der equity steht das Gesetzesrecht (statutory law) in Form von Parlamentsgesetzen und u.a. von Fachministern erlassenen Rechtsverordnungen (statutory instruments) zwar in der Normenhierarchie ganz oben, ist aber faktisch von eher geringer Bedeutung.

I. Wichtigste Rechtsquelle (auch) im Vertragsrecht: Das common law im engeren Sinn

Das englische Vertragsrecht beruht überwiegend auf dem Fallrecht der drei höchsten englischen Gerichte, den sog. senior courts (High Court und Court of Appeal of England and Wales) und dem UK Supreme Court als zumindest in Zivilsachen letztinstanzlichem Gericht des gesamten Vereinigten Königreichs. Aus dem Fallrecht ergibt sich beispielsweise, wie ein Vertrag zustande kommt, wann er nichtig bzw. anfechtbar ist, wie er ausgelegt werden muss und welche Rechtsbehelfe im Fall einer Vertragsverletzung bestehen.

Die Entscheidungen der oben genannten Gerichte haben grundsätzlich formale Bindungswirkung für alle Gerichte, die zu einem späteren Zeitpunkt über einen vergleichbaren Lebenssachverhalt entscheiden müssen und zugleich auf einer niedrigeren bzw. (eingeschränkt bei Entscheidungen des Court of Appeal) der gleichen Stufe des Instanzenzuges stehen (sog. rule of precedent). Das bedeutet zugleich, dass englische Richter (auch wenn sie es wahrscheinlich selbst in der Tradition des britischen understatement nicht so formulieren würden) sowohl bei der erstmaligen Setzung als auch einer späteren Verwerfung (overruling) von precedents rechtssetzend tätig werden.

Die Bindungswirkung besteht nur mit Blick auf die für die Entscheidung maßgeblichen rechtlichen Gründe (sog. ratio decidendi) und nicht für Rechtsausführungen, die das Gericht nur bei Gelegenheit der Entscheidung zum Besten gegeben hat (sog. obiter dicta). Entscheidend kommt hinzu, dass eine Bindungswirkung immer nur dann besteht, wenn der zugrundeliegende Sachverhalt mit Blick auf die entscheidungserhebliche Fragestellung keine relevanten Unterschiede zu dem Sachverhalt aufweist, der dem precedent zugrunde lag. Wenn die Parteien oder auch die Richter die Bindungswirkung eines precedent vermeiden wollen, versuchen sie daher mit relevanten tatsächlichen Unterschieden der jeweils zugrundeliegenden Sachverhalte zu argumentieren (sog. distinguishing).  

II. Equity

Die equity als zweite eigene Rechtsquelle stammt historisch aus der Billigkeitsrechtsprechung des Lordkanzlers (und dem später eigens dafür eingerichteten Court of Chancery), die als ungerecht empfundene Ergebnisse des common law und der für die Anwendung des allgemeinen Fallrechts zuständigen regulären common law courts korrigieren sollte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es keine Trennung zwischen common law und equity courts mehr. Im Vertragsrecht ist die Bedeutung der equity auch eher gering. An vielen Stellen ist sie weitgehend mit einschlägigen Rechtsgrundsätzen und -instituten aus dem common law verschmolzen und zudem weitgehend durch konkrete Regeln für bestimmte Anwendungsfälle formalisiert. Mit einem allgemeinen „Treu und Glauben“ Grundsatz sollte man sie daher nicht verwechseln. Die eigentliche unangefochtene Bedeutung der equity liegt außerhalb des Vertragsrechts im trust law und im Immobiliarsachenrecht.

Relevant ist die equity im allgemeinen Vertragsrecht u.a. aber noch für die Gewährung von Erfüllungsansprüchen, die das reguläre common law nicht zulässt, sowie Aufrechnungsrechte und Abtretungsmöglichkeiten. Aus dem Recht der equity folgt auch ein Anspruch auf Berichtigung einer schriftlichen Vertragsurkunde (rectification) durch rechtsgestaltenden richterlichen Akt, falls diese nicht dem wahren Parteiwillen entspricht.

III. Gesetzesrecht

Gesetzesrecht hat Geltungsvorrang sowohl vor dem common law (im engeren Sinn) als auch der equity. Trotzdem spielt es nur eine untergeordnete Rolle: Der englische Gesetzgeber greift meist nur sehr punktuell in einzelne Regelungsbereiche ein, um aus seiner Sicht entstandene Fehlentwicklungen des common law zu korrigieren. Bei der Lektüre englischer Gesetze beschleicht einen zuweilen das Gefühl, dass die Gesetzgebung Werbung für das Fallrecht machen will: Englische Gesetze sind typischerweise äußerst detailverliebt, sprachlich schwer verdaulich und für den Rechtsanwender damit alles andere als ein Vergnügen.

Im Vertragsrecht sind vor allem die folgenden statutes bzw. statutory instruments relevant. Sie können auf der offiziellen Webseite http://www.legislation.gov.uk abgerufen werden.

o   Der Unfair Contract Terms Act 1977 normiert eine Inhaltskontrolle von vertraglichen Haftungsbeschränkungen im unternehmerischen Geschäftsverkehr (für Verbraucherverträge gibt es den weitergehenden Consumer Rights Act 2015), die der Gesetzgeber für erforderlich gehalten hat, weil das common law hier mit Ausnahme von Arglist beim Vertragsschluss (fraud) überhaupt keine Beschränkungen der Privatautonomie vorsieht.

o   Der Contracts (Rights of Third Parties) Act 1999 ermöglicht es den Vertragsparteien, nicht am Vertrag beteiligten Dritten unmittelbare vertragliche Ansprüche einzuräumen. Hintergrund dafür ist, dass nach common law anders als im deutschen Recht (§ 328 ff. BGB) ein Vertrag zugunsten Dritter grundsätzlich nicht in Betracht kommt (Grundsatz der privity of contract sowie Problematik fehlender consideration in dieser Konstellation).

o   Der Law Reform (Frustrated Contracts) Act 1943 regelt die Rechtsfolgen im Fall der Beendigung eines Vertrages aufgrund einer funktional mit der Unmöglichkeit bzw. einer WGG im deutschen Recht vergleichbaren sog. frustration of contract und modifiziert damit insbesondere die teilweise harschen Regeln des aus dem common law stammenden law of restitution.

o   Der Late Payment of Commercial Debts (Interest) Act 1998 begründet einen Anspruch von Gläubigern fälliger Entgeltforderungen auf Zahlung von Verzugszinsen.

o   Der Misrepresentation Act 1967 enthält Erleichterungen für den Gläubiger gegenüber dem common law bei der Geltendmachung von Ansprüchen wegen falschen (zumindest fahrlässigen) vorvertraglichen Auskünften (misrepresentations), die ein Recht auf Vertragsaufhebung (rescission) sowie Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen (gerichtet auf das negative Interesse) beinhalten können.

o   Der Limitation Act 1980 enthält Regelungen zur Verjährung von zivilrechtlichen Ansprüchen (auch) aus Vertrag.

o   Ansonsten existieren einschlägige statutes im „besonderen“ Vertragsrecht: Auf Kaufverträge kommt etwa der Sale of Goods Act 1979 zur Anwendung. Für Dienstleistungs- und Werkverträge gibt es den Supply of Goods and Services Act 1982.

Für die Auslegung von Gesetzestexten gilt die bereits angesprochene rule of precedent. Auch hier besteht daher für das Auslegungsergebnis Bindungswirkung an vorangegangene Entscheidungen (höherrangiger) Gerichte.

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Kategorie: ZivilrechtWirtschaftsrechtVertragsgestaltung

Autor
Prof. Dr. Patrick Ostendorf

Prof. Dr. Patrick Ostendorf

Solicitor in England & Wales - Master of Laws (King’s College London)

+49 (0) 941 463 7070 patrick.ostendorf@htw-berlin.de

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