16.09.2024 |

Haben Beschuldigte in UK das Recht zu schweigen?

Ja klar! Oder? - Das englische Strafprozessrecht ist überraschend beschuldigtenfeindlich

Aus jedem amerikanischen Krimi kennt man die Szene, dass ein Beschuldigter verhaftet wird und ihm "seine Rechte" vorgelesen werden. Im wesentlichen sind das: "Sie haben das Recht zu schweigen" und "Sie haben das Recht auf anwaltliche Vertretung". In den USA kennt man diese Belehrung eines Beschuldigten unter dem Begriff "Miranda warning", die auf der berühmten Entscheidung des US Supreme Court im Fall "Miranda vs Arizona" aus dem Jahr 1966 beruht (384 U.S. 436 (1966)). Es gibt zwar keine offiziell verbindliche Textvorgabe, aber meistens lesen US-amerikanische Polizisten in etwa folgenden Text vor:

You have the right to remain silent. Anything you say can and will be used against you in a court of law. You have the right to talk to a lawyer for advice before we ask you any questions. You have the right to have a lawyer with you during questioning. If you cannot afford a lawyer, one will be appointed for you before any questioning if you wish. If you decide to answer questions now without a lawyer present, you have the right to stop answering at any time.

Klappe halten! Klappe halten! Klappe halten!

Der US-amerikanische Juraprofessor James Duane wurde Millionär mit seinem Buch "You have the right to remain innocent", das auf seiner Uni-Vorlesung zum Schweigerecht im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren beruht, und dessen YouTube Videos zu den Themen "Don't talk to the police", "Remain innocent" u.a. insgesamt gute 25 Millionen Aufrufe erzielt hat:

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Diese Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit haben natürlich nicht erst die Amerikaner erfunden. Der Grundsatz "nemo tenetur", also "niemand muss sich selbst belasten", ist uralt und besteht in dieser oder ähnlicher Form in vielen Rechtsordnungen. In Deutschland ist das Prinzip der Selbstbelastungsfreiheit ausdrücklich gesetzlich niedergelegt in § 136 Abs. 1 Satz 2 und § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO. Es steht jedem Angeklagten - nach deutschem Strafrecht - somit frei, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Die deutsche Polizei kommt dabei natürlich - im Unterschied zu den Amis - nicht mit einigen knackigen Sätzen aus. Stattdessen besteht eine typische deutsche Beschuldigtenbelehrung aus zwei DinA4-Seiten, siehe zum Beispiel die Vorlage des NRW-Justizministeriums hier: https://www.justiz.nrw.de/BS/formulare/strafsachen/merkblaetter_jugendstrafverfahren/02_Beschuldigtenbelehrung/index.php

Der Clou dabei ist zweierlei:

(a) Alles, was ein offiziell Beschuldigter sagt, ohne vorher belehrt worden zu sein, kann später im Strafprozess nicht gegen ihn verwendet werden. Das betrifft auch Beweismittel, die auf Aussagen des Beschuldigten beruhen. Wenn ein nicht belehrter Beschuldigter dem Polizisten also sagt: "Das Messer liegt unter dem Beifahrersitz meines Autos", und die Polizei das Messer deswegen findet, dann ist das Messer nicht als Beweismittel zugelassen. Diese Beweisverbotsregel nennt man in den USA "Frucht des verbotenen Baumes" ("fruit of the forbidden tree doctrine").

(b) Das Schweigen des Beschuldigten darf nicht negativ gegen ihn gewertet werden. Macht ein Beschuldigter (oder später im Prozess ein Angeklagter) von seinem Schweigerecht Gebrauch, so dürfen die Strafrichter oder die Jury-Mitglieder dies nicht zu seinem Nachteil werten.

Schweigerecht des Beschuldigten in Großbritannien?

Genau so ist das alles ja wohl auch im Vereinigten Königreich, dem Mutterland der Demokratie, oder? Nun ja, nicht wirklich! In UK, also England, Wales, Schottland und Nordirland, existiert kein solch weites Schweigerecht eines Beschuldigten im Strafverfahren, erst Recht kein striktes Beweisverwertungsverbot.

Ich habe bereits in meinem Buch zum englischen Zivilprozess erklärt, dass im englischen Recht die Wahrheitsfindung einen höheren Stellenwert hat als in Deutschland oder anderen europäischen Rechtsordnungen. So haben Ehegatten und Verwandte im englischen Zivilprozess kein Zeugnisverweigerungsrecht, müssen also - wenn Sie als Zeugen geladen und vereidigt werden - ihren Ehegatten, ihr Kind oder ihr Geschwister belasten. Diese Denke "Wahrheit geht vor" ist nicht auf das englische Zivilprozessrecht beschränkt.

Nun werden auch im Vereinigten Königreich Beschuldigte von der Polizei über ihre Rechte belehrt. Allerdings besteht hier ein gravierender und überraschender Unterschied: Wenn ein Beschuldigter schweigt, kann dies in England, Wales, Schottland und Nordirland sehr wohl gegen ihn (oder sie) gewertet werden. Wirklich! Wie mittelalterlich ist das denn?

Beschuldigtenbelehrung in Großbritannien

Prinzipiell gilt auch in UK die Unschuldsvermutung ("innocent until proven guilty") und das Selbstbelastungsverbot ("right to remain silent"). Aber, und das ist ein unglaublich großes aber: Der "Criminal Justice and Public Order Act 1994" führte mit Section 34 eine Bestimmung ein, dass es gegen einen Beschuldigten bzw. Angeklagten gewerten werden kann, wenn dieser entlastende Umstände nicht sofort offenlegt. Wird also jemand, der eines Raubes am Montag um 18 Uhr beschuldigt war, gegenüber den vernehmenden Polizisten nicht sofort aussagt: "Zu der Zeit war ich bei meiner Geliebten", weil er das vor seiner Ehefrau geheim halten wollte, dann kann der Richter bzw. die Jury dieses Schweigen gegen den Angeklagten werten. Im Sinne von: "Warum hat er das nicht gleich gesagt?" bzw. "Das ist jetzt im Nachhinein nicht glaubwürdig".

Die offizielle Beschuldigtenbelehrung in Großbritannien, die jedem Polizisten dort beigebracht wird, lautet:

"You do not have to say anything. But it may harm your defence if you do not mention when questioned something which you later rely on in court. Anything you do say may be given in evidence."

Der erste Satz klingt noch gut. Aber - im Unterschied zu USA und Deutschland - wird dem Beschuldigten in Satz 2 dann sofort Angst gemacht, dass er sich und seiner Verteidigung selbst schaden könnte, wenn er nicht doch sofort mit der Polizei spricht. Das ist das Gegenteil von Miranda in den USA und der Beschuldigtenbelehrung in Deutschland. Deshalb sieht man in britischen Krimis auch oft, dass Beschuldigte - obwohl ein Verteidiger neben ihnen sitzt - auf Fragen des Vernehmungsbeamten antworten, wo ein deutscher Strafverteidiger sich denkt: "Warum hältst du nicht einfach die Klappe und wartest, bis dein Strafverteidiger die Strafakte gelesen hat?"

Verhaftet in England - Aussagen oder nicht?

Was bedeutet all dies nun für Deutsche, die - weswegen auch immer - von den britischen Strafverfolgungsbehörden ins Kreuzfeuer genommen werden? Im Zweifel lautet der Rat: Klappe halten und Anwalt verlangen! In der speziellen Konstellation Deutscher in UK bietet sich auch an, die "I do not understand" Karte zu spielen. Es mag gegen das eigene Ego laufen, so zu tun, als ob man kaum Englisch versteht, aber diese Hemmung sollte man überwinden. Denn die Alternative ist, dass man englischen Beamten gegenüber sitzt, die einen vernehmen und alles aufzeichnen, was man sagt. Wer jetzt der Meinung ist: Ich bin ja unschuldig und habe nichts zu verschweigen, kann also ruhig aussagen, der sollte sich (nochmal) das Video von Professor Duane ansehen.

Falls später jemand behauptet, das entlastende Beweise nicht mehr gewürdigt werden können oder sollen, weil der Beschuldigte diese nicht sofort vorgebracht hat, dann sollten die Verteidiger sich konsequent auf Art. 6 der European Convention on Human Rights berufen und argumentieren, dass das englische recht gegen die Menschenrechtskonvention verstößt.

Fazit und allgemeiner Ratschlag: Do not get arrested for a crime in the UK!

Kategorie: StrafrechtProzessrechtCrown CourtStrafverfahren

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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