Grundlagen des Zivilprozessrechts in England und Wales
Die englische und die deutsche Zivilprozessordnung haben sehr wenig Gemeinsamkeiten. Vorbereitung und Durchführung einer Zivilklage folgen im englischen Recht völlig anderen Regeln. Als einige Beispiele für gravierende Unterschiede zwischen den ZPO-Regeln in Deutschland und den englischen Civil Procedure Rules seien genannt:
- Pre-action protocol: Die Parteien, insbesondere der Kläger, muss aufwendige Vorbereitungsmaßnahmen durchführen, bevor eine Klage überhaupt erhoben werden kann. Es gilt ein strenges "Ultima Ratio Prinzip", soll heißen, die englischen Zivilgerichte dürfen nur und erst dann behelligt werden, wenn die Parteien vorab alles versucht haben, den Streit außergerichtlich zu lösen. Wer dem Gericht keinen guten Grund nennen kann, warum er sich vorprozessual nicht verglichen hat, kommt in Erklärungsnöte und muss mit erheblichen Kostennachteilen rechnen. Die deutsche ZPO kennt solche vorprozessualen Pflichten nicht.
- Cost Budget: Die Parteien müssen von ihren Anwälten über die Kosten des Verfahrens aufgeklärt werden, die in UK um ein Vielfaches höher sind als in Deutschland. "Aufklären" klingt harmlos, auch ein deutscher Anwalt muss auf das Prozesskostenrisiko hinweisen. Nur: in England bedeutet "Aufklärung über das Kostenrisiko", dass eine detaillierte Kostenschätzung per Excel-Tabelle erstellt werden muss, das "Litigation Cost Budget". Dabei handelt es sich um komplexe Aufstellungen, in die die geschätzte Anzahl der Arbeitsstunden für Solicitors, Barristers, Paralegals, Übersetzer usw. einfließen., Es muss also der vorausichtliche zeitliche Arbeitsumfang aller Beteiligten geschätzt werden, denn feste RVG-Tarife existieren in UK nicht. So können die Prozesskosten eines Zivilprozesses, vor allem eines Wirtschaftsverfahrens, in England durchaus höher sein als der Streitwert. Nur wenn der Anwalt davon überzeugt ist, dass sein Mandant einen Zivilprozess finanziell auch durchsteht, wird die Kanzlei das Mandat übernehmen.
- Disclosure: Deutschen Anwälten und deren Parteien völlig Fremd ist des Prinzip der Disclosure, also der Pflicht, alle relevanten Informationen der Gegenseite proaktiv offen zu legen, auch und gerade wenn es sich um fpr die eigene Position Nachteile Informationen handelt.
- Zeugenbeweis: Auch die Beweisaufnahme in England birgt für deutsche Prozessanwälte viele Überraschungen. So müssen Zeugen ihre Aussage vorab detailliert schriftlich darlegen und am Ende per Unterschrift eidesstattlich versichernn, dass der Inhalt des schriftlichen "Witness Statement" vollständig und richtig ist. In der mündlichen Verhandlung muss der Zeuge dann sofort ins Kreuzverhör, d.h. der gegnerische Barrister "zerpflückt" die schriftliche Zeugenaussage.
- Trial: Haben die Parteien sich auch während und trotz der teuren Materialschlacht, die das Prinzip der Disclosure und die Pflicht zur Erstellung umfangreicher schriftlicher Zeugenaussagen mit sich bringt, immer noch nicht gütlich geeinigt und verglichen, kommt es als Klimax des Prozesses zur mündlichen Gerichtsverhandlung, dem "Trial". Anders als in Deutschland findet diese Verhandlung in aller Regel mehrere Tage am Stück statt. Das Gericht soll also in komprimierter Form alle Informationen verarbeiten, also Schriftsätze lesen, Zeugen und Sachverständige hören sowie die Schlussplädoyers der Barrister auf sich wirken lassen. Nach solchen zwei bis zehn Tagen Verhandlung am Stück wird dann das Urteil verkündet. Nicht wie in Deutschland oft erst Wochen später.
Sollen deutsche Unternehmen Gerichtsstand England akzeptieren?
Die wenigen Beispiele oben haben gezeigt, dass ein Zivilprozess in England eben gerade nicht "so ähnlich wie in Deutschland abläuft, eben nur in englischer Sprache". Im Gegenteil. Ein deutscher Kläger oder Beklagter hat also nicht nur ein geografisches und sprachliches Auswärtsspiel. Sondern auch das Spiel selbst in ein anderes. Wer gut Pool Billard spielt (also deutsche Gerichtsverfahren und deren Abläufe kennt), hat dennoch ohne Vorbereitung im englischen Snooker keine Chance, ja er versteht zunächst nicht einmal die Regeln.
Dabei ist die englische CPR nicht "besser" oder "schlechter" als die deutsche ZPO. Es ist einfach eine völlig andere Rechtstradition. Oft kommt es auch auf den konkreten Fall an, ob mannach ZPO oder CPR Vorteile im Prozess hat. Wer als Kläger zum Beispiel weiß, dass interne Memos oder Mails der eigenen Mitarbeiter katastrophale Informationen enthalten, der sollte möglichst nicht nach englischen Regeln klagen, weil ihm dann die Disclosure den Fall zerstört. In dieser Konstellation kann man vielleicht auf Mediation oder Arbitration nach eher kontinentaleuropäischen Regeln hinwirken - falls der Vertrag nicht ohnehin bereits eine knallharte Rechtswahl- und Gerichtsstandsklausel enthält, vonder die Gegenseite nicht abweichen will.
Know the Rules of the Game
In jedem Fall gilt: Wer internationale Geschäftsbeziehungen zu Vertragspartnern unterhält, die englisches Recht und englischen Gerichtsstand vereinbaren möchten, dann kann man das prinzipiell durchaus akzeptieren. Man sollte sich dann aber frühzeitig die Spielregeln aneignen, sich also spätestens dann, wenn es im Vertragsverhältnis kriselt, mit den praktischen Abläufen des englischen Zivilprozesses vertraut machen und Vorbereitungsmaßnahmen ergreifen, z.B. eine Rundmail an alle Mitarbeiter, keine schädlichen Dokumente zu produzieren, weil die sonst später der Gegenseite offen gelegt werden müssen.
Praxisleitfaden zum englischen Zivilprozess
Exakt solche Hilfestellungen und praktischen Tipps gibt der Leitfaden "Der englische Zivilprozess", der 2024 beim Beck-Verlag erschienen ist. Eine ausführliche Zusammenfassung und Besprechung finden Sie auf dem Beck-Blog hier.