Das englische Strafprozessrecht kennt kein uneingeschränktes Schweigerecht des Beschuldigten
In einem deutschen Strafverfahren hat der Angeklagte das uneingeschränkte Recht, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu schweigen (§§ 136 Abs. 1, Satz 2, 163 a Abs. 3). Punktum. Kein wenn und aber.
Dieses Schweigen darf vom Strafrichter nicht gegen ihn gewertet werden, denn sonst wäre das Schweigerecht eine hohle Phrase, nach dem Motto: "Du kannst schon schweigen, aber dann lege ich das halt gegen dich aus, denn wenn du unschuldig wärst, würdest du ja aussagen". Genau so ein Schluss des Strafgerichts ist unzulässig und stellt einen Revisionsgrund dar, falls der Strafrichter so ungeschickt war, einen solchen Negativschluss in der Urteilsbegründung durchschimmern zu lassen. Jeder deutsche Jurastudent lernt also den Satz:
Aus dem Schweigen dürfen gegen den Angeklagten keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden.
Wir lassen an dieser Stelle jetzt mal die schwierige Konstellation des sogenannten "Teilschweigens" weg, wenn ein Beschuldigter also prinzipiell aussagt, aber zu einzelnen Aspekten schweigt. Der Bundesgerichtshof lässt die nachteilige Würdigung von solchem teilweisem Schweigen des Angeklagten zu. Daher rät jeder brauchbare Strafverteidiger immer und ausnahmslos: Klappe halten! Und zwar komplett.
Details zu Problem des teilweisen Schweigens in diesem Artikel: www.lto.de/recht/hintergruende/h/schweigen-teilschweigen-blech-gold
Das englische Strafprozessrecht ist strenger gegen Angeklagte
Der Grundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare" (niemand muss sich selbst belasten) stellt einen Grundpfeiler der meisten westlichen Strafprozessordnungen dar. Umso verblüffender, dass dieses Prinzip ausgerechnet in England nicht uneingeschränkt gilt. Ich habe in diesem Beitrag bereits darauf hingewiesen, dass Beschuldigte in UK von der Polizei erheblich anders über ihre Rechte belehrt werden als in Deutschland oder in den USA: www.englischesrecht.de/blog/haben-beschuldigte-in-uk-das-recht-zu-schweigen
Um den Unterschied zwischen dem deutschen und dem englischen Strafprozessrecht ganz klar auf den Punkt zu bringen:
Auch im britischen Strafrechtssystem gilt die Unschuldsvermutung (presumption of innocence until proven guilty beyond reasonable doubt). Auch im britischen Strafrechtssystem sind Beschuldigte nicht verpflichtet, Fakten zu beweisen oder zu widerlegen. Sie müssen keine inhaltlichen Aussagenn machen oder vor Gericht aussagen.
Aber!
Die Aussage zu verweigern kann negative Auswirkungen auf die Verteidigung eines Angeklagten in UK haben. Denn, und jetzt kommt der zentrale Punkt:
Judges and juries can draw adverse inferences from such silence.
Das Gericht und die Geschworenen (in UK gibt es bei schweren Straftaten immer noch Jury-Prozesse mit 12 Geschworenen) dürfen also negative Schlüsse aus dem Schweigen des Angeklagten ziehen.
Da zieht es deutschen und amerikanischen Strafverteidigern die Schuhe aus!
Verstoß gegen das deutsche Grundgesetz und/oder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)?
Die Tatsache, dass Angeklagte in Großbritannien kein uneingeschränktes Schweigerecht besitzen, war 2016 sogar schon einmal Gegenstand eines Verfahrens vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/09/rk20160906_2bvr089016.html). Ein kroatisch-irischer Staatsbürger wehrte sich gegen seine Auslieferung nach UK mit dem Argument, dass das dortige Strafprozessrecht seine Grundrechte verletzt. Im Ergebnis hatte er damit keinen Erfolg: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/bvg16-065.html
Die Verwertung des Schweigens zum Nachteil des Angeklagten hindert die Auslieferung an das Vereinigte Königreich nicht.
Es verblüfft jedoch, wie unverblümt das Bundesverfassungsgericht als Tatsache feststellt, dass Schweigen in UK zu Lasten eines Angeklagten verwertet werden darf:
Die im britischen Strafprozess bestehende Möglichkeit, unter bestimmten Umständen das Schweigen eines Angeklagten zu seinem Nachteil zu verwenden, widerspricht zwar dem im deutschen Strafrecht geltenden und im Grundgesetz verankerten Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, verletzt aber noch nicht die für integrationsfest erklärten Verfassungsgrundsätze ach Art. 1 GG.
Don't get arrested in Britain!
Deutsche Staatsbürger, die in Großbritannien verhaftet oder/und einer Straftat beschuldigt werden, befinden sich daher in einer Zwickmühle. Aussagen oder nicht? Meistens gegen sie ohnehin davon aus, dass in UK auch ein uneingeschränktes Schweigerecht besteht. Im Zweifel ist es tatsächlich auch - gerade für (aus UK-Sicht) Ausländer - die bessere Alternative, (jedenfalls erst einmal) keine Aussage zu machen. Als Deutscher kann man sich später immer noch darauf hinausreden, dass man schon sprachlich nicht verstanden hat, was eigentlich vor sich geht. Das weitere Vorgehen bespricht man dann am besten mit einem versierten Criminal Defense Solicitor.