22.09.2024 |

Case Law in England: Wann ist es bindend und wann darf ein Richter abweichen?

Präjudiz: Das Prinzip des "precedent" im englischen Recht

In Common Law Rechtsordnung wie England und Wales haben frühere Gerichtsentscheidungen (genannt precedent oder umgangssprachlich case law) einen erheblich höheren Stellenwert als in Civil Law Jurisdictions wie Deutschland oder Frankreich. Dabei muss man bei Präjudiz-Urteilen unterscheiden zwischen strikter Bindungswirkung (stare decisis) von Entscheidungen höherer Gerichte (binding precedent) einerseits und der bloßen argumentativen Überzeugungskraft, also Leitbildfunktion früherer Urteile (persuasive precedent) andererseits.

Diese „doctrine of legal precedent“ füllt Bände (Einstieg in das Thema bietet das Kapitel “The doctrine of judicial precedent” in Frost et al, “Unlocking the English Legal System”, Taylor & Francis, 7. Auflage, 2022), also die Frage, wann frühere Gerichtsentscheidungen strikte Bindungswirkungen entfalten und unter welchen Voraussetzungen welche Gerichte davon doch wieder abweichen dürfen, etwa weil sich die gesellschaftliche Rechtsauffassung zu einem Thema gewandelt hat, z.B. Strafbarkeit von Homosexualität, Vergewaltigung in der Ehe u.a. (“the self-binding nature of previous decisions and the exceptions to these self-binding rules”).

Für Anwältinnen und Anwälte in England ist deshalb die umfassende Recherche nach und das technisch korrekte Zitieren von „relevant case law“ in England und Wales von außerordentlich großer Bedeutung.

Ist die Meinung von Jura-Professoren für englische Gerichte irrelevant?

Nein, auch in England und Wales sind für die Entscheidungsfindung der Richterinnen und Richter nicht ausschließlich vorherige Gerichtsurteile relevant. Die Auffassung der juristischen Wissenschaft, also von Professorinnen und Professoren, manchmal auch von einflussreichen Praktikern, hat ebenfalls Einfluss auf die Entscheidungen von Gerichten, wenn auch in geringerem Umfang als in Deutschland.

So existieren in England und Wales einige Standardwerke zu bestimmten Rechtsgebieten, zum Thema Vertragsrecht etwa „Chitty on Contracts“ (Hugh Beale (Hrsg.), Sweet & Maxwell, 34. Auflage, 2022). Englische Gerichte zitieren in ihren Urteilsbegründungen auch solche juristische Literatur, allerdings in deutlich geringerem Umfang als die einschlägige Rechtsprechung, das „case law“.

Die Bezugnahme auf Urteile und sonstige juristische Publikationen mit Überzeugungskraft (authority) in juristischen Schriftsätzen läuft unter der Bezeichnung „citation of authorities“. In der forensischen Praxis sind damit aber zu mehr als 90% Gerichtsentscheidungen gemeint.

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Handbuch "Der Zivilprozess in England", Beck-Verlag.

Ausführliche Informationen zum englischen Zivilprozess

Kategorie: ProzessrechtHigh Court

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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