23.09.2024 |

Anwaltspraxis in England: So zitiert man englische Urteile korrekt

Die Bedeutung von Case Law und Präzedenzurteilen in UK

Wollen Anwältinnen oder Anwälte gegenüber dem Gericht sowie der Gegenseite ihre Argumentation untermauern, brauchen sie überzeugungskräftige Unterstützung, wenn ihre Sicht des konkreten Falles nicht nur die Einzelmeinung eines Parteivertreters bleiben soll. In Common Law Rechtsordnungen ist das beste Argument eine verbindliche frühere Entscheidung eines Obergerichts zu einem identischen oder sehr ähnlichen Sachverhalt, also ein Präzedenzurteil (precedent). Hierzu siehe dieser Beitrag: https://www.englischesrecht.de/blog/case-law-in-england-wann-ist-es-bindend-und-wann-darf-man-abweichen

Juristische Recherche und Zitierwesen

Aus den zehntausenden relevanten Urteilen (case law) der Gerichte von England und Wales, die bis ins Mittelalter zurück reichen, eine für den aktuellen Fall einschlägige Entscheidung zu finden und diese dann richtig zu zitieren, gehört zu den wichtigsten Fertigkeiten englischer Juristinnen und Juristen und haben einen hohen Stellenwert in der universitären Ausbildung.

Die richtige Benennung englischer Gerichtsentscheidungen (best citation)

Ein offizielles „neutrales“ Zitierwesen für Gerichtsurteile (neutral citations) mit eindeutig zugeordneten Gerichtsaktenzeichen wurde in England und Wales erst nach und nach eingeführt, beginnend ab Januar 2001. Zunächst für den Court of Appeal und den Administrative Court durch Practice Direction (Judgments: Form and Citation) [2001] 1 WLR 194, im Januar 2002 erweitert auf den High Court durch Practice Direction (Judgments: Neutral Citations) [2002] 1 WLR 346. Der Family Court (Familiengericht) und der Court of Protection (Betreungsgericht) haben die neutral citation erst am 22 April 2014 eingeführt. Davor existierte keine allgemein verbindliche Zitierweise für Gerichtsentscheidungen.

Neutral (auch bezeichnet als “medium neutral”, “vendor neutral” oder “publisher neutral”) bedeutet in diesem Kontext, dass als Referenz nicht die Veröffentlichung des Urteils in einer Publikation eines juristischen Verlags zitiert wird, sondern die vom Gericht vergebene offizielle Bezeichnung der Entscheidung (“the unique reference given to a particular judgment by HM Courts and Tribunals Service”). Diese setzt sich zusammen aus dem Jahr der Entscheidung, der abgekürzten Bezeichnung des Gerichts, der vom Gericht vergebenen Geschäftsnummer (unique reference) und einem Zusatz, der den Gerichtszweig bzw. die Abteilung angibt.

Große Zivil- und Wirtschaftsprozesse werden in erster Instanz vor dem High Court verhandelt. Die Abteilungen des High Court von England und Wales (EWHC) verwenden folgendes Referenzsystem:

  • England and Wales High Court (Chancery Division): [year] EWHC number (Ch)
  • England and Wales High Court (King's Bench Division): [year] EWHC number (KB)
  • England and Wales High Court (Commercial Court): [year] EWHC number (Comm)
  • England and Wales High Court (Technology & Construction Court): [year] EWHC number (TCC)
  • England and Wales High Court (Patents Court): [year] EWHC number (Pat)
  • England and Wales High Court (Family Division): [year] EWHC number (Fam)

Das Berufungsgericht für Zivilsachen wird so zitiert:

  • England and Wales Court of Appeal (Civil Division): [year] EWCA Civ number

Das vollständige Zitat der Entscheidung nennt zudem vorab die Namen der Parteien, meist in verkürzter Form. Als Beispiel hier die vollständige neutral citation einer Entscheidung des High Court, Chancery Division:

Court v Despalliers [2009] EWHC 3340 (Ch)

und hier ein Beispiel des Zitats einer Berufungsentscheidung in Zivilsachen, die in Anwaltsschriftsätzen naturgemäß häufiger zitiert werden als Urteile erster Instanz:

Chandler v Cape plc [2012] EWCA Civ 525

Am Ende der zitierten Entscheidung wird sodann die Seitenzahl oder Randziffer angegeben, wenn man auf eine spezielle Passage Bezug nimmt. Will man etwa auf die Randziffern 19 bis 22 verweisen, ergänzt man am Ende: „at [19]-[22]“. Weitere Details zur neutral citation und Hinweise für die Praxis auf  www.bailii.org/bailii/citation.html.

Wo findet man englische Urteile?

In der Praxis englischer Anwälte und Richter nützt die neutral citation für sich allein allerdings wenig, da im Vereinigten Königreich bislang keine umfassende Online-Datenbank existiert, über die man auf diese Entscheidungen zugreifen könnte.

Eine solche Internet-basierte Datenbank von Gerichtsentscheidung wird derzeit auf Initiative des UK Justizministeriums aufgebaut (Pressemitteilung des UK Ministry of Justice vom 19.4.2022 zum „Project Caselaw“ www.gov.uk/government/news/court-judgments-made-accessible-to-all-at-the-national-archives) und seit April 2022 werden Entscheidungen des High Court von England & Wales, des Court of Appeal, des Supreme Court sowie Entscheidungen der Upper Tribunals an das Nationalarchiv (The National Archives) übermittelt und dort auf der „Caselaw“ Website (https://caselaw.nationalarchives.gov.uk) für die Allgemeinheit kostenlos im Volltext zugänglich gemacht. Dabei handelt es sich allerdings um ein Pilotprojekt in einem sehr frühen Stadium („alpha website“) und Urteile vor 2003 sind noch nicht erfasst. Die Datenbank soll stetig erweitert und optimiert werden. Zielgruppe dieses Projekts ist die Öffentlichkeit, weniger die legal profession. Juristinnen und Juristen werden daher auch künftig die juristischen Fallsammlungen und Zeitschriften (Law Reports) zitieren, da die Urteile dort redaktionell aufbereitet sind.

Anwälte in England müssen die "beste Urteilsfundstelle" zitieren, um das Gericht nicht zu verärgern

Um auf den Text einer Gerichtsentscheidung zugreifen zu können und die relevante Passage für Dritte eindeutig auffindbar zu machen, muss daher nach wie vor eine konkrete Fundstelle in einer Publikation angegeben werden. Oft sind Urteile in mehreren Fallsammlungen und Fachzeitschriften veröffentlicht. Anwaltsschriftsätze sollen dann die sogenannte „beste Fundstelle“ (best citation) zitieren. Hierfür legt die Practice Direction (Citation of Authorities) [2012] 1 WLR 780 eine offizielle Rangliste der Fundstellen fest, an die sich englische Prozessanwälte dringend halten sollten, um keine Rüge durch das Gericht zu riskieren. Die PD legt hinsichtlich der Wahl der zu zitierenden Fundstelle folgendes Vorgehen fest:

  • Ist die Entscheidung in einem der vom ICLR (www.iclr.co.uk) herausgegebenen Official Law Reports veröffentlicht, so ist dieser Report zu zitieren;
  • Ist die Entscheidung dort (noch) nicht veröffentlicht, aber im Weekly Law Reports (W.L.R.) oder im All England Law Reports (All ER) zu finden, so ist diese Veröffentlichung zu zitieren;
  • Nur wenn die betreffende Entscheidung (bislang) in keiner der oben genannten Publikationen veröffentlicht wurde, darf in Anwaltsschriftsätzen auf andere Fachzeitschriften verwiesen oder – falls eine Entscheidung noch gar nicht in einem Law Report veröffentlich wurde – ein schlichter Ausdruck des Urteils selbst (transcript) beigefügt werden.

Was ist der Unterschied zwischen "Transcript" und "Law Report"

Warum legen englische Gerichte so viel Wert darauf, dass eine Entscheidung mit der Fundstelle aus einem renommierten Law Report zitiert wird, nicht nur als reiner Urteilstext (transcript)? Grund hierfür ist die redaktionelle Aufbereitung des Urteils, die dem Gericht und den gegnerischen Prozessanwälten die Arbeit erheblich erleichtert. Ausführlich dazu: www.iclr.co.uk/blog/legal-profession/whats-the-difference-between-a-law-report-and-a-transcript

Als “transcript of a handed down judgment” bezeichnet man den vollständigen Text des schriftlich abgefassten Urteils, wie das Gericht dieses veröffentlicht. Ein transcript besteht aus:

  • Geschäftszeichen des Gerichts (neutral citation)
  • Namen der Parteien, auch bezeichnet als „case header
  • Liste der Richterinnen und Richter (list of judges)
  • Datum der Entscheidung (date of judgment)
  • Datum der Verhandlung (date the case was heard)
  • Namen der anwaltlichen Parteivertreter (names of counsel and the firms of solicitors instructing them)
  • vollständiger Urteilstext

In dieser „rohen“, redaktionell nicht aufbereiteten Form, stehen die Urteile auf der BAILII-Datenbank (www.bailii.org) oder auf der neuen Caselaw-Website des Nationalarchivs, meist bereits wenige Tage nach der Urteilsverkündung.

Urteilsveröffentlichungen in einem Law Report bieten dem juristischen Nutzer dagegen einen erheblichen Mehrwert. Zusätzlich zum transcript, das in aller Regel vollständig abgedruckt wird, erarbeitet ein erfahrenes juristisches Redaktionsteam folgende Ergänzungen (additional components), die dem eigentlichen Urteil vorangestellt werden:

  • die catchwords, eine Liste von Stichworten, umreißen schlaglichtartig die von der Entscheidung behandelten juristischen Fragen und betroffenen Normen;
  • als Kern der redaktionellen Leistung die als headnote bezeichnete Zusammenfassung des rechtlich relevanten Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und – besonders wichtig – die präzise Widergabe des vom Gerichts angewandten (ggf. neuen) Rechtsgrundsatzes;
  • die sog “blocklist” nennt sodann alle Gerichtsentscheidungen, auf die sich die Parteien im Verfahren bezogen haben, sei es in Schriftsätzen oder in der mündlichen Verhandlung;
  • sodann folgt der sog. “facts paragraph”, der den tatsächlichen Sachverhalt unter voller Namensnennung der Beteiligten sowie die konkrete Prozesshistorie bis zum Verhandlungstermin zusammenfasst.

Diese additional components erstrecken sich in der Regel über vier bis sechs Seiten. Vor allem catchwords und headnote machen Urteile, die in England oft 50 bis 200 Seiten ausmachen, bewältigbar.

ICLR, als Herausgeber der offiziellen Law Reports die führende Autorität zu diesem Thema. Um in einem Law Report abgedruckt zu werden, muss eine Gerichtsentscheidung veröffentlichungswürdig (reportable) sein, also entweder einen neuen Rechtsgrundsatz einführen (lay down a new principle of law) oder – häufiger der Fall – bestehendes Recht präzisieren (clarify the existing law).

Weitere Informationen zum Zivilprozessrecht und Wirtschaftsverfahren in England

Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse, Familienrecht sowie Nachlassabwicklung. Im Beck-Verlag verantwortet er den Länderbericht zum Familienrecht von England und Wales sowie das Praxishandbuch zum englischen Zivilprozess. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Zitierwesen" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".

Kategorie: ProzessrechtHigh Court

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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