13.08.2024 |

Vorvertragliche Haftung im englischen Recht

Was bedeutet "misrepresentation" im englischen Vertragsrecht?

Vor dem Vertragsschluss steht, jedenfalls im deutschen Recht, eine mögliche vorvertragliche Haftung aus culpa in contrahendo, die seit 2002 auch ausdrücklich im BGB geregelt (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB) und nicht mehr nur gewohnheitsrechtlich anerkannt ist.

Mit dem Begriff eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses kann das englische Recht dagegen wenig anfangen. Zumindest in Teilen funktional vergleichbar mit der Haftung aus culpa in contrahendo sowie einer Anfechtung des Vertrages wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) ist allerdings das deliktisch qualifizierte englische Rechtsinstitut der sog. misrepresentation.

I. Die Haftung aus misrepresentation

Eine misrepresentation liegt immer dann vor, wenn eine Vertragspartei gegenüber der anderen Partei vor Vertragsschluss Aussagen tatsächlicher oder rechtlicher Art trifft, die falsch sind, die andere Vertragspartei aber - auf ihre Richtigkeit vertrauend - zum Vertragsschluss veranlassen. Neben dieser notwendigen Kausalität zwischen Falschaussage und Veranlassung zum Vertragsschluss ist darüber hinaus auch notwendig, dass die Aussage objektiv erheblich ist (also auch für einen „vernünftigen“ Dritten für den Vertragsschluss relevant gewesen wäre). Allgemeine Anpreisungen, Absichtserklärungen und reine Meinungsäußerungen reichen nicht, sofern die Partei die geäußerte Absicht bzw. Meinung zum Zeitpunkt der Äußerung tatsächlich hat.

II. Unterschiede zwischen der Haftung aus misrepresentation und der vorvertraglichen Haftung im deutschen Recht

Vergleicht man die misrepresentation mit der Haftung aus culpa in contrahendo bzw. dem Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) fällt auf, dass die Haftung aus misrepresentation teils weniger streng, teils aber auch strenger als im deutschen Recht ist.

  • Weniger streng ist sie, weil reines Unterlassen (anders als konkludentes Handeln) im Ausgangspunkt keine misrepresentation darstellt. Anders als im deutschen Recht gibt es zumindest im Grundsatz keine Aufklärungspflichten und zwar selbst dann nicht, wenn einer Partei ein Umstand bekannt ist, der für die andere Partei mit Blick auf den beabsichtigten Vertragsschluss offenkundig von wesentlicher Bedeutung ist (Ausnahmen bestätigen die Regel: Aufklärungspflichten gibt es beispielsweise bei Versicherungsverträgen oder Verträgen, die durch ein besonderes Treueverhältnis gekennzeichnet sind; auch bei Immobilienkaufverträgen wird teilweise etwa eine Aufklärungspflicht jedenfalls für ungewöhnliche versteckte Mängel bejaht). Sofern sie nicht gefragt werden, müssen beispielsweise Gebrauchtwagenhändler jedenfalls mit Blick auf eine Haftung aus misrepresentation nicht von sich aus offenlegen, dass es sich bei dem verkauften Wagen um einen Unfallwagen handelt.
  • Allerdings kennt das englische Recht neben arglistiger (fraudulent) und fahrlässiger (negligent) auch die verschuldensunabhängige (innocent) misrepresentation. Im letzteren Fall kann zwar nicht wie bei der fraudulent/negligent misrepresentation (hier auf Grundlage eines „tort of deceit“ bzw. section 2 Misrepresentation Act 1967) ein auf das negative Interesse gerichteter Schadensersatzanspruch (Vertrauensschaden) geltend gemacht werden. Anders als im deutschen Recht besteht grs. aber auch bei der innocent misrepresentation die Möglichkeit zur Anfechtung des Vertrages. Insofern ist englisches Recht also strenger.
  • Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Punkt: Anders als im deutschen Recht (hier verdrängen zumindest kauf- und werkvertragliche Mängelhaftungsansprüche Ansprüche aus c.i.c., wenn und soweit keine Arglist vorliegt) stehen Ansprüche wegen misrepresentation grundsätzlich neben der vertraglichen Haftung. Wenn also die falsche vorvertragliche Aussage später zusätzlich auch Vertragsbestandteil wird, kann sich die andere Partei aussuchen, ob sie Rechtsbehelfe wegen misrepresentation oder Vertragsverletzung (breach of contract) geltend machen will (s. auch section 1 Misrepresentation Act 1967).

III. Umgang mit einer misrepresentation in der Praxis: Non-reliance clauses

Wie geht die Praxis damit um? Regelmäßig mit dem Versuch, eine Haftung wegen misrepresentation zu vermeiden. Meistens geschieht das durch Verwendung sog. „non-reliance clauses“, die mögliche Haftungsansprüche bereits im Keim ersticken sollen: Diese Klausel enthält nämlich die vertragliche Abrede, dass sich die Parteien beim Vertragsschluss auf keinerlei vorvertragliche Zusagen der anderen Partei verlassen haben. Wenn eine Partei dann später doch eine Haftung wegen misrepresentation geltend macht, würde sie sich in einen Selbstwiderspruch setzen (contractual estoppel).

Nach der Rechtsprechung sind non-reliance clauses aber gleichwohl als Haftungsbeschränkungen zu behandeln – insbesondere dann, wenn (wie typischer Weise) die non-reliance clause vereinbart wird, nachdem bereits relevante Informationen ausgetauscht wurden, auf die sich die Parteien ggf. faktisch auch verlassen haben. Non-reliance Klauseln können daher einer Angemessenheitskontrolle am Maßstab der „reasonableness“ (section 3 Misrepresentation Act 1967 in Verbindung mit section 11 Unfair Contract Terms Act 1977; bei Verbraucherverträgen greift der Consumer Rights Act 2015) unterliegen.

Auch aufgrund ihrer weiten Verbreitung halten non-reliance Klauseln der richterlichen Inhaltskontrolle meist stand. Immer gilt das freilich nicht: Unwirksam war nach Auffassung des englischen Court of Appeal etwa die non-reliance clause in einem Mietvertrag über Gewerbeimmobilien, weil sie im Ergebnis zu einer vollständigen Entwertung der hier üblichen formalen „pre-contractual inquiries“ (im konkreten Fall über die Belastung des Mietobjekts mit Asbest, die der Vermieter trotz konkreter schriftlicher Anfrage des Käufers fälschlicherweise verneint hatte) geführt hätte. Zur Risikominimierung kann sich daher ggf. empfehlen, in der non-reliance Klausel eine Rückausnahme für solche vorvertraglichen Informationen vorzusehen, die schriftlich an und auf Nachfrage der anderen Vertragspartei übermittelt wurden.

Aktuelles Fallbeispiel des High Court

Ein schöner aktueller Fall aus der Rechtsprechung zur Vertiefung der Haftung aus misrepresentation (es ging hier um die vom Käufer versuchte Rückabwicklung eines Kaufvertrages über Corona-Schutzmasken wegen angeblicher misrepresentation) ist die Entscheidung Advanced Multi-Technology for Medical Industry & Ors v Uniserve Ltd & Ors [2024] EWHC 1725 (Ch) (04 July 2024), im Volltext zu finden hier.

Kategorie: ProzessrechtVertragsgestaltungWirtschaftsrecht

Autor
Prof. Dr. Patrick Ostendorf

Prof. Dr. Patrick Ostendorf

Solicitor in England & Wales - Master of Laws (King’s College London)

+49 (0) 941 463 7070 patrick.ostendorf@htw-berlin.de

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