Keine Regeln zur örtlichen Zuständigkeit in der englischen Zivilprozessordnung
Jede Woche konktaktiert mich ein Mandant oder Anwaltskollege, der einen Zivilprozess in England führen will oder muss, mit der Frage, wo man den Beklagten denn eigentlich genau verklagen muss. Am Gericht seines Wohn- oder Firmensitzes? Am Ort der Leistungserbringung?
In diesem Beitrag habe ich ausführlich die sachliche Zuständigkeit im englischen Zivilprozessrecht erklärt, ob also der County Court oder der High Court sachlich zuständig ist, und dort jeweils welcher "track": www.englischesrecht.de/blog/welches-gericht-ist-in-england-wofuer-zustaendig Aber scheinbar habe ich das Thema örtliche Zuständigkeit dort vergessen? Oder wo stehen die Regeln der örtlichen Zuständigkeit im englischen Prozessrecht?
Der Kläger entscheidet durch Klageerhebung
Die aus Sicht eines deutschen Juristen verblüffende Antwort: Nein, ich habe das Thema nicht vergessen. Vorschriften zur örtlichen Zuständigkeit von Zivilgerichten (venue) stehen im englischen Prozessrecht nirgends, weil das englische Prozessrecht keine strikten Regeln zur örtlichen Zuständigkeit kennt!
Der Kläger kann vielmehr frei entscheiden. Sofern die Parteien den konkreten Prozessort nicht in einem Vertrag vorab vereinbart haben oder sich die Anwälte nach Ausbruch des Konflikts gütlich auf einen solchen Gerichtsort einigen können, dann trifft der Kläger die Entscheidung über die örtliche Zuständigkeit schlicht und ergreifend faktisch dadurch, wo er seine Klage erhebt. Den deutschen Grundsatz, dass man prinzipiell das Gericht am Wohn- oder Geschäftsort des Beklagten anrufen muss (wenn nicht eine besondere Zuständigkeit gegeben ist), kennt das englische Zivilrecht nicht. Darum findet man hierzu auch keine Regelungen in den Civil Procedure Rules.
Faktisch kommt für manche speziellen Wirtschaftsstreitigkeiten nur der High Court in London mit seinen Spezialkammern in Frage. Die Parteien wollen in der Regel ja, dass spezialisierte Experten als Richterinnen und Richter über solche high stakes claims entscheiden. Und die sitzen (sorry Birmingham, Manchester und Liverpool) nun mal in London.
In "normalen" Zivilprozessen oder "einfachen" Wirtschaftsstreitigkeiten kann der Kläger frei entscheiden, an welchem Ort der Prozess geführt werden soll. Wohnt der Kläger etwa in Liverpool und sitzen dort die Solicitors seines Vertrauens, dann klagt er eben am High Court in Liverpool, auch wenn der Beklagte in Cardiff oder London wohnt und nun zur Verhandlung anreisen muss.
Ausnahme: Verweisungsantrag durch den Beklagten
An versteckter Stelle findet sich in der englischen Zivilprozessordnung doch eine Regelung, die - zumindest indirekt - mit der Frage der örtlichen Zuständigkeit zu tun hat. Nach CPR 30.2(6) (www.justice.gov.uk/courts/procedure-rules/civil/rules/part30) kann eine Prozesspartei (in der Regel der Beklagte, denn der Kläger hat hierüber ja bereits vor Klageerhebung nachgedacht) eine "application for transfer" an ein anderes Gericht stellen. Die Kriterien, nach denen das bisher zuständige Gericht über eine solche Verweisung entscheidet, stehen in CPR 30.3. Hierbei geht es allerdings in aller Regel nicht allein darum, dass ein anderer Ort für den Beklagten bequemer ("more convenient") wäre. Zwar ist es laut CPR 30.3 (2)(b) eines von mehreren Entscheidungskriterien für das Gericht:
(b) whether it would be more convenient or fair for hearings (including the trial) to be held in some other court;
Das allein genügt allerdings meist nicht für einen erfolgreichen Verweisungsantrag. Vielmehr müssen im Rahmen der Abwägung über den Verweisungsantrag weitere Argumente dafür sprechen, dass das andere Gericht objektiv besser geeignet ist, über den Fall zu entscheiden. Gute Chancen auf Verweisung hat man daher meist nur mit dem Argument, dass an einem anderen Gericht spezialisierte Richterinnen und Richter vorhanden sind.