Das Gerichtswesen in England und Wales
Im Vereinigten Königreich besteht eine verwirrende Vielzahl von verschiedenen Gerichtstypen. Auf der offiziellen Website der englischen Justiz, www.judiciary.uk, sind in der Rubrik „Courts and Tribunals“ nicht weniger als 39 verschiedene Gerichtsarten aufgelistet. Damit sind nicht die einzelne tatsächlichen Gerichte vor Ort gemeint, so wie es in Deutschland etwa 638 lokale Amtsgerichts gibt, sondern verschiedene Arten von Gerichten mit jeweils eigenen Zuständigkeiten. Warum dieser unübersichtliche Wust von Spezialgerichten? Nun, auf der bereits genannten offiziellen Website der britischen Justiz (www.judiciary.uk/structure-of-courts-and-tribunals-system) lautet der erste Satz zum Thema Struktur des Gerichtswesens:
„Rather than being designed from scratch, our courts system has evolved and developed over 1,000 years. This has led to a complicated and, in places, confusing structure.“
Frei übersetzt: „Unser Gerichtssystem ist kompliziert und – an manchen Stellen – verwirrend, da es sich über 1.000 Jahre hinweg entwickelt hat, statt von Grund auf konzipiert worden zu sein.“
County Court versus High Court, Magistrates Court versus Crown Court?
Dieser erstaunlich realistischen Selbsteinschätzung kann man nicht widersprechen. Schon das für einen konkreten Fall zuständige Eingangsgericht zu finden, ist eine Herausforderung. Wer in England nach klar verständlichen Zuständigkeitsregeln und absolut trennscharfen Kompetenzabgrenzungen zwischen den einzelnen Gerichten sucht, muss an seiner Frustrationstoleranz arbeiten. Der erfahrene Solicitor und BBC-Rechtsexperte Alex Woods fasst es in seinem Ratgeber für prozesswillige Laien (Alex Woods, Flying Solo, 2020, S. 15) so zusammen:
„Unfortunately, the English [court] system is not a system of certainty. It is full of qualifications, caveats, variations and discretionary powers […]. A lot of the CPR rules often finish […] saying something like this: “But the judge can exercise his discretion to do anything he wants!” Continentals with their legal system would go crazy trying to work in ours. Our system is from the grassroots up and all vague and a bit woolly, whilst theirs are codes and it is all top-down.”
Wieder frei übersetzt: „Leider ist das englische Gerichtswesen kein System sicherer Zuständigkeiten. Es ist voll von Bedingungen, Ausnahmen, Abweichungen und Ermessenvorbehalten […]. Viele Paragrafen der Zivilprozessordnung enden mit einer Formulierung wie dieser: „Jedoch kann der Richter sein Ermessen ausüben um zu tun, was er will!“ Kontinentaleuropäer, die ihr Rechtssystem gewohnt sind, würden wahnsinnig werden, wenn sie in unserem arbeiten wollten. Unser System ist von unten her gewachsen, unpräzise und verworren, während deren System durch Gesetze von oben nach unten reguliert ist.“
Diverse aktuelle Reformprojekte in der britischen Justiz
Es wird nicht einfacher und übersichtlicher dadurch, dass seit 2016 im Rahmen des „HMCTS Reform Programme“ eine konstante Modernisierung von Abläufen, Online-Angeboten und Formularen stattfindet (www.gov.uk/guidance/the-hmcts-reform-programme) und dass der Tod von Queen Elisabeth II im September 2022 zu einer teilweisen Umbenennung von Gerichten geführt hat. Alle Publikationen und Internet-Fundstellen mit einem Datum vor Herbst 2022 sind deshalb mit Vorsicht zu genießen und viele Judiciary- oder Gov.uk-Webseiten sind aktuell in Überarbeitung.
Auch die interne Organisation des Gerichtswesens wurde modernisiert. Der aktuelle Status Quo zum 20.9.2022 ist in der Richtlinie „The Organisation of the Judiciary“ zusammengefasst: www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2022/09/organisation-of-the-judiciary-2022.pdf
Struktur und Zuständigkeiten der Gerichte von England und Wales
Eine grafische Übersicht der gesamten Gerichtsstruktur von England und Wales (Structure of Courts and Tribunals System) ist in der seit April 2023 aktualisierten Fassung auf der Judiciary-Website veröffentlicht: https://www.judiciary.uk/structure-of-courts-and-tribunals-system/ In der Online-Version dieser Grafik ist jedes Gericht mit einem Link hinterlegt, der zu einer weiteren Seite mit detaillierten Informationen über die fachliche Zuständigkeit dieses Gerichts, dessen Besetzung und die dort speziell geltenden Verfahrensvorschriften führt.
Gerichte der Strafjustiz in England und Wales
Die Strafjustiz ist noch vergleichsweise einfach strukturiert. Das Eingangsgericht ist je nach Tatvorwurf entweder der Magistrates Court oder der Crown Court, vor dem nur schwere Delikte verhandelt werden und bei dem in der Regel eine Jury aus zwölf Geschworenen entscheidet. Die Berufung geht zum Court of Appeal, Criminal Division. Danach besteht für rechtskräftig verurteilte Straftäter in UK nur noch die Möglichkeit, über die "Criminal Cases Review Commission (CCRC), eine Art Wiederaufnahme zu beantragen: https://ccrc.gov.uk/
Die Ziviljustiz ist in Großbritannien erheblich komplizierter organisiert
Hier zunächst eine vereinfachte Übersicht der wichtigsten Zivilgerichte und des Instanzenzugs in England und Wales
Innerhalb des High Court wurde, neben der seit jeher bestehenden Unterteilung in die drei Divisions (King’s Bench, Chancery und Family Division) mit Beginn zum 2.10.2017 auch eine weitere Organisationseinheit „The Business & Property Courts“ geschaffen. Darin sind fachlich spezialisierte Gerichte zusammengefasst, ähnlich den Kammern für Handelssachen sowie den Zivilkammern für bestimmte Sachgebiete an deutschen Landgerichten (§95 und §72a Gerichtsverfassungsgesetz).
Internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse mit Beteiligung einer deutschen Prozesspartei werden mit hoher Wahrscheinlich einem dieser Business and Property Courts zugewiesen. Deshalb ist für deutsche Prozessbeteiligte der 2022 komplett überarbeitete Praxisleitfaden „The Business and Property Courts of England & Wales Chancery Guide 2022“ von besonderem Interesse: www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2023/06/Chancery-Guide-December-2023.pdf
Zuordnung eines Rechtsstreits an das richtige Zivilgericht und dort das richtige "Gleis"
Welches dieser vielen Gerichte ist nun konkret zuständig? Die Fallzuordnung (case allocation) ist in der englischen Ziviljustiz eine Wissenschaft für sich. Oder eben gerade keine Wissenschaft, sondern eher eine Runde am Glücksrad. Denn es ist sogar für erfahrene englische Prozessanwälte kaum prognostizierbar, ob eine Zivilklage mit mittlerem bis hohem Streitwert am County Court oder am High Court landet. Eine feste Streitwertgrenze wie in § 23 GVG in Deutschland (von 5.000 Euro, künftig 8.000 Euro) kennen die englischen Civil Procedure Rules nicht. Am englischen County Court (vor allem am Central County Court in London) werden oft Verfahren mit hohen sechsstelligen Streitwerten verhandelt, wenn sie juristisch unkompliziert erscheinen und nicht allzu umfangreich sind. Nicht selten werden Fälle auch noch kurz vor der mündlichen Verhandlung (trial) nach oben oder - häufiger - nach unten verwiesen.
Was sind die Grundprinzipien der Zuständigkeit englischer Zivilgerichte?
Zunächst muss man seinen englischen Zivilrechtsstreit dem zuständigen Gerichtszweig zuordnen und ihn dort – in einem zweiten Schritt – buchstäblich auf das richtige Gleis setzen lassen. Neben der Frage, ob ein Zivilprozess vor dem County Court oder dem High Court verhandelt wird (nur sehr entfernt vergleichbar mit der deutschen Unterscheidung zwischen Amtsgericht und Landgericht), ordnet das Gericht im Rahmen des „case management“ den Prozess per Beschluss auch noch einem von mehreren „tracks“ (Verfahrensgleise) zu. Eine Entsprechung hierfür sucht man im deutschen Zivilprozessrecht vergeblich. Für diese „tracks“ gelten jeweils verschiedene Verfahrensvorschriften. Es existieren drei „Verfahrensgleise“, nämlich:
- Small claims track (oft fälschlich “small claim court” genannt, ein solches spezielles Gericht für geringe Streitwerte existiert aber nicht)
- Fast track
- Multi-track
Die Entscheidung des Gerichts über den „track“ erfolgt allerdings nicht gleich zu Anfang des Gerichtsverfahrens, sondern in der Regel erst nachdem die Parteien Schriftsätze ausgetauscht haben, mindesten die Klageerwiderung eingegangen ist.
Die einzelnen Kriterien der Fallzuordnung (case allocation) mit ihren Regeln, Ausnahmen und Unterausnahmen erstrecken sich im Praxishandbuch "Der Zivilprozess in England" über ganze acht Seiten. Für die Kurzfassung auf diesem Blog soll als Zusammenfassung genügen:
- Neben den bloßen Streitwerten sind für die track allocation vor allem auch weitere Kriterien bedeutsam wie Umfang und rechtliche Komplexität des Falles, Erforderlichkeit von ausgiebiger disclosure oder umfangreicher Sachverständigengutachten (expert witness evidence). So sind Fallkonstellationen möglich, bei denen der Streitwert im sechsstelligen Bereich liegt, der Sachverhalt aber einfach gelagert ist, so dass selbst der High Court „nur“ ein fast track Prozedere anordnet, statt des am High Court meist greifenden multi track.
- Die praktische Bedeutung dieser Zuordnung liegt darin, dass in den verschiedenen tracks unterschiedliche Regeln für das case management gelten, vor allem im Rahmen der Beweisführung. Die Gerichte wenden etwas unterschiedliche Verfahren an und stellen in ihren Guides unterschiedliche Formulare zur Verfügung.
- Zudem werden für die Phase der mündlichen Verhandlung je nach track mehr oder weniger Gerichtstage eingeplant, in multi-track Prozessen in der Regel zwei bis vier ganze Tage (unmittelbar nacheinander), für fast track Verfahren dagegen in der Regel nur ein Prozesstag. Extrem komplexe und umfangreiche Gerichtsverfahren können auch über mehrere Wochen am Stück verhandelt werden.
- Eine für die Parteien wichtige Besonderheit ist, dass bei Prozessen, die dem small claims track zugewiesen werden, in der Regel die gegnerischen Anwaltskosten nicht erstattet werden müssen.
Regeln zur örtlichen Zuständigkeit der englischen Zivilgerichte
Anders als in Deutschland kennt die englischen Zivilprozessordnung keine strikten Vorschriften zur örtlichen Zuständigkeit. Der Kläger hat hier als prinzipiell freie Wahl, an welchem Ort er die Klage einreicht. Mehr dazu in diesem Beitrag: www.englischesrecht.de/blog/feste-oertliche-gerichtszustaendigkeit-kennt-die-englische-ziviljustiz-nicht
Weitere Informationen zu Zivilprozessen und Wirtschaftsverfahren in England
Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse, Familienrecht sowie Nachlassabwicklung. Im Beck-Verlag verantwortet er den Länderbericht zum Familienrecht von England und Wales sowie das Praxishandbuch zum englischen Zivilprozess. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Gerichtswesen in Engkand und Wales: Zuständigkeiten und Fallzuordnung" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".