13.10.2024 |

In England gilt eine Pflicht zur Mediation bei allen Zivilklagen bis 10.000 Pfund

Prozessparteien in englischen Zivilprozessen müssen immer zuerst Mediation versuchen

In England ist der Zivilprozess schon immer das letzte Mittel der Streitbeilegung. "Schnell mal eine Zivilklage erheben" ist in England schlicht nicht möglich (Details hier). Bevor man in England tatsächlich eine Klage einreichen kann, müssen etliche formelle Schritte durchlaufen werden (pre-action protocol) und die Parteien müssen ernsthaft versucht haben, eine gütliche Einigung zu erreichen.

Die englische Zivilprozessordnung (Civil Procedure Rules) ist mit Hinweisen an die Parteien und Richter gespickt, dass in jeder Phase des Prozesses eine gütliche Einigung anzustreben ist. Auch die Practice Directions (Ausführungsrichtlinien zur englischen Zivilprozessordnung) führen den Klageparteien und deren englischen Anwälten im Kapitel Pre-Action Conduct (www.justice.gov.uk/courts/procedure-rules/civil/rules/pd_pre-action_conduct) in den Paragraphen 8-11 unter der Überschrift „Settlement and ADR“ (Vergleich und alternative Streitbeilegung) sehr deutlich vor Augen, was von ihnen erwartet wird, bevor sie die Gerichte belästigen.

Wer sich daran nicht hält und aus Sicht des englischen Gerichts vorschnell geklagt hat, muss schon immer damit rechnen, durch eine nachteilige Kostenregelung (cost order) "bestraft" zu werden, also Prozesskosten aufgebrummt zu bekommen, auch wenn man vor Gericht gewonnen hat.

Seit 22. Mai 2024 gilt in England eine echte Pflicht zur Mediation (compulsory mediation)

Ab Mai 2024 geht die englische Ziviljustiz nun einen Schritt weiter. Im Rahmen eines zunächst zweijährigen Pilotprojekts werden Zivilprozesse im "small claims track", also bis zu einem Streitwert von 10.000 Pfund, nun automatisch an einen vom englischen Gericht bestellten Mediator verwiesen, der mit den Parteien mindestens ein einstündiges Gespräch führt und die Vorteile einer außerprozessualen Einigung erläutert. Solche "small money claims" landen, wenn der Beklagte sie nicht ohnehin anerkennt oder ein Versäumnisurteil ergehen lässt, nun also nicht mehr gleich bei einem englischen Richter am County Court, sondern werden erst einmal mit einem Mediator besprochen.

Die Details hierzu regelt die neue Practice Direction 51ZE: www.justice.gov.uk/courts/procedure-rules/civil/rules/part51/practice-direction-51ze-small-claims-track-automatic-referral-to-mediation-pilot-scheme sowie auf der Website der englischen "The Law Society": www.lawsociety.org.uk/campaigns/court-reform/whats-changing/small-claims-mediation

Es ist übrigens bezeichnend für die englische Justiz, dass Klagen bis zu 10.000 Pfund noch als "small money claims" gelten. Als deutscher Anwalt stutzt man da. Schließlich wäre man bei einer solchen Klage in Deutschland sogar beim Landgericht. Für englische Gerichte (und Anwälte) sind Klagen bis 10.000 Pfund dagegen offenkundig lästiger Kleinkram. Hintergrund ist, dass bei Streitwerten bis 10.000 Pfund (in Wahrheit sogar bei Streitwerten bis 100.000 Pfund) die Anwaltskosten oft erheblich höher sind als der Streitwert! Wirtschaftlich rechnet sich ein solcher Zivilprozess in England also meist gar nicht, selbst wenn man ihn gewinnt, da es nach englischem Recht in aller Regel keine 100 Prozent Kostenerstattung gibt.

Die "Zwangs-Mediation" bietet den Prozessparteien, neben der Kostenersparnis, zudem die Möglichkeit, ihren Rechtsstreit vertraulich (also ohne öffentliche Gerichtsverhandlung) beizulegen, als dies bei einem formellen Gerichtsverfahren am County Court der Fall wäre. Außerdem können bei einer Mediation Ergebnisse erzielt werden, die flexibler und kreativer sind als das, was ein Richter bei einem Gerichtsverfahren anordnen kann, da das Gericht an die Prozessanträge gebunden ist.

Aus Sicht der englischen Justiz ist ein weiteres Ziel, den völlig überlasteten Gerichten Luft zu verschaffen. Nach Berechnungen des englischen Justizministeriums soll die Pflicht-Mediation bis zu 5.000 Sitzungstage pro Jahr einsparen, so dass sich das Richterpersonal auf die komplexeren und größeren Zivilprozesse konzentrieren kann.

Ausweitung der Mediationspflicht auf Zivilprozesse mit höheren Streitwerten ist bereits geplant

Noch während das Politprojekt 2024-2026 zu den small claim track Verfahren läuft (also bei Verfahren bis 10.000 Pfund), arbeitet die englische Justiz bereits an einer Ausweitung auf fast als Zahlungsklagen, auch außerhalb des small claims track. Details dazu in diesen Beiträgen:

Die Verweisung eines englischen Zivilrechtsstreits an einen vom Gericht bestellten Mediator wird also künftig der Regelfall für Zahlungsklagen in England. Prozessparteien sollen dadurch noch mehr zu einer außergerichtlichen Streitbeilegung motiviert (negativ formuliert: gedrängt oder gar genötigt) werden, als dies in England durch das strenge pre-action protocol ohnehin schon der Fall ist. Das "ultima ratio" Prinzip der englischen Ziviljustiz wird somit noch einmal erheblich intensiviert.

Englische Richter nutzen die Verweisung auf ADR auch noch spät in laufenden Zivilprozessen

Die englische Richtersschaft (judiciary) selbst unterstützt diese Tendenz zur Verlagerung von Zivilrechtsstreitigkeiten in Richtung Alternative Dispute Resolution (ADR) natürlich. Nicht nur ganz am Anfang eines Zivilverfahrens, sondern sogar in bereits seit Monaten laufenden Zivilprozessen, seit Neuestem sogar noch in der Berufungsinstanz, setzen englische Gerichte das Verfahren aus und weisen die Parteien an, einen Versuch zur außergerichtlichen Streitbeilegung zu versuchen.

So bestätigte im November 2023 der Court of Appeal von England und Wales im Fall Churchill gegen Merthyr Tydfil County Council, dass englische Gerichte eine solche Aussetzung des Verfahrens zum Zweck der außergerichtlichen Streitbeilegung (non-court dispute resolution, NCDR) anordnen dürfen. Der Kern der Berufungsentscheidung lautet:

The court could lawfully stay proceedings for, or order, the parties to engage in a non-court-based dispute resolution process provided that the order made did not impair the very essence of the claimant’s right to proceed to a judicial hearing, and was proportionate to achieving the legitimate aim of settling the dispute fairly, quickly and at reasonable cost.

Das Gericht muss also im Aussetzungsbeschluss begründen, warum es "no-court-based dispute resolution" im konkreten Fall für sinnvoll hält, aber das ist allein mit dem Kostenargument fast immer möglich.

Englische Zivilgerichte werden daher künftig noch häufiger von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und sich auf die Entscheidung des Berufungsgerichts stützen.

Nun kann das Gericht die Parteien zwar nicht zwingen, sich außergerichtlich zu einigen. Dennoch: Man kann sich lebhaft vorstellen, wie begeistert das Gericht wäre, wenn die Parteien nach sechs oder zwölf Monaten mit dem "Ergebnis" zum Gericht zurück kommen: "Sorry, wir haben uns nicht geeinigt, bitte ein Urteil fällen!" Theoretisch ist das denkbar, faktisch erzeugt eine solche Aussetzung seitens des englischen Gerichts einen enormen Einigungsdruck. Das kann man gut oder schlecht finden. In Wirtschaftsprozessen in England ist dies Fakt. Diejenige Partei, die auf einem Gerichtsurteil besteht, macht sich nicht beliebt.

Auswirkungen für deutsche Klageparteien in England

Deutsche Unternehmen, die sich in einem Rechtsstreit mit ihrem britischen Geschäftspartner befinden, kennen diesen faktischen (und nun sogar rechtlichen) Druck zur Mediation (Schlichtung) meist nicht. Wenn der englische Anwalt (Litigation Solicitor) dem deutschen Firmeninhaber oder dessen deutschen Justitiaren empfiehlt, dass man zunächst dringend eine gütliche Einigung versuchen und vielleicht sogar insgesamt freiwillig auf ADR umschwenken sollte, anstatt einer Klage zum staatlichen englischen Gericht, dann halten die deutschen Unternehmer ihren englischen Anwalt häufig für "zu soft". Manchmal wechseln die deutschen Kläger dann sogar die englische Anwaltskanzlei, weil sie einen englischen Anwalt suchen, "der konsequent eine scharf formulierte Klage einreicht". Ein klassischen Missverständnis zwischen Litigation Anwälten in Deutschland und England: aggressive Prozessführung rächt sich in England!

Rechtsabteilungen in deutschen Unternehmen, die diese völlig andere Prozesskultur in Großbritannien kennen, werden entweder von vornherein englisches Recht und englischen Gerichtsstand in Verträgen ablehnen oder - wenn das in den Vertragsverhandlungen nicht durchsetzbar ist - eine ADR-Methode zur Streitbeilegung im Vertrag vereinbaren.

Weitere Informationen zu Rechtsstreitigkeiten vor englischen britischen Gerichten

Praxishandbuch "Zivilprozess in England" gibt deutschen Prozessparteien wertvolle Hinweise

Kategorie: ProzessrechtWirtschaftsrechtZivilprozesseVertragsgestaltungHigh CourtMagistrates Court

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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