Ist die zu 15 Mal lebenslänglich verurteilte Kinderkrankenschwester in Wahrheit unschuldig? - Eine Analyse aus Anwaltssicht
Es war einer der spektakulärsten Strafprozesse in der Geschichte Englands: Zwischen Juni 2015 und Juni 2016 soll die zur Tatzeit 25jährige Kinderkrankenschwester Lucy Letby auf der Neonatal-Station des "Countess of Chester Hospital" in Chester, einer Kleinstadt etwa 20 Kilometer südlich von Liverpool, sieben frühgeborene Babys getötet und es bei weiteren sieben Babys versucht haben, bei einem sogar zweimal. Die englische Presse bezeichnete sie als "Serial Baby Killer" und "Angel of Death".
Am 21.8.2023 verurteilte Richter Justice Goss am Crown Court Manchester sie zu 14 Mal lebenslänglich ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. In einem zweiten Prozess (Retrial) erging am 5.7.2024 ein Urteil zum 15ten Mal lebenslänglich wegen versuchten Mordes an einem weiteren Baby. Das hatte aber schon keine Bedeutung mehr, denn drei Tage zuvor, am 2.7.2024 hatte der Court of Appeal ihre Berufung gegen das erste Urteil zurückgewiesen. Somit war und ist die Verurteilung zu 14 Mal lebenslänglich rechtskräftig und es steht kein reguläres Rechtsmittel mehr zur Verfügung (zur Criminal Case Review Commission, CCRC, später).
Warum schreibe ich also trotz rechtskräftiger Verurteilung immer noch im Konjunktiv "sie soll Babys ermordet haben"? Weil immer mehr Stimmen laut werden, die diese Urteile für grob falsch erachten und Lucy Letby für das Opfer eines bizarren Justizirrtums halten. Wären die Kritiker nur die üblichen Blogger, YouTuber oder True Crime Podcaster, könnte man dies leicht als irrelevante Spekulationen beiseite wischen. Seit Mitte 2024 melden sich aber auch hochkarätige Politiker und Intellektuelle in England zu Wort, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens fordern, um die zahlreichen Ungereimtheiten zu überprüfen. Allen voran der jahrzehntelange Parlamentarier und ehemalige Minister Sir David Davis, ein Urgestein des englischen House of Commons, sowie der Publizist Peter Hitchens.
Das ist in etwa so, als hätten Wolfgang Schäuble (RIP) und Jürgen Habermas öffentliche Statements abgegeben, dass sie ein rechtskräftiges deutsches Strafurteil nach Berufung und Revision für falsch oder zumindest sehr zweifelhaft halten. Das tut man nicht leichtfertig. Insbesondere wenn es um eine in den Medien als Todesengel präsentierte Serien-Babymörderin handelt. Wer hier Partei für die verurteilte Straftäterin ergreift, der sammelt in der Öffentlichkeit keine Sympathiepunkte. Anders formuliert: Die Zweifel am Strafprozess müssen gewaltig und sehr überzeugend sein, damit sich Personen dieses Kalibers mit Justizkritik so weit aus dem Fenster lehnen.
Aber nicht nur Einzelpersonen haben Zweifel geäußert, auch die "Royal Statistical Society" hat sich mehrfach kritisch dazu geäußert (siehe hier), wie statistische Daten im Fall Letby verwendet wurden, nämlich mathematisch-methodisch grob fehlerhaft.
Die konkreten Kritikpunkte stelle ich weiter unten noch im Detail dar. An dieser Stelle will ich nur verdeutlichen, dass die Zweifel am Urteil Lucy Letby das häufig im Internet zu findende "Conspiracy Theory" Level übersteigt. Es lohnt sich also ein genauer Blick, zumal die Möglichkeit eines krassen Fehlurteils in der britischen Gesellschaft und den britischen Medien seit August/September 2024 immer intensiver diskutiert wird und es nicht so aussieht, als würde das Thema wieder versanden.
Der Versuch einer Analyse aus Anwaltsperspektive
In diesem Beitrag präsentiere ich die wichtigsten Fakten sowie Akteure und sammle die Argumente beider Seiten. Wer in der Causa Lucy Letby nicht nur an der Oberfläche diskutieren will, muss sich in medizinische und statistische Fragestellungen vertiefen. Hinzu kommen viele Besonderheiten des englischen Strafverfahrens am Crown Court, die im konkreten Fall ebenfalls eine große Bedeutung haben (Jury, expert witness system, reporting restrictions u.a.m.).
Natürlich erschienen zum Fall Letby bereits Tausende von Zeitungsartikeln, TV-Sendungen, Interviews und Stellungnahmen, auch in Deutschland (www.stern.de/panorama/verbrechen/lucy-letby--fall-der-britischen-baby-moerderin-wird-neu-untersucht-35051322.html). Ich versuche mit diesem Beitrag hier, die relevanten Informationen zusammen zu stellen und die Sichtweise eines Anwalts beizusteuern, der seit 25 Jahren an der Schnittstelle zwischen deutschem und englischem Recht tätig ist, also beide Rechtssysteme kennt.
Um es vorweg zu nehmen: Ich kann nicht sicher sagen, ob Lucy Letby unschuldig ist. Wenn man den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" aber Ernst nimmt, dann muss die Verurteilung meines Erachtens noch einmal sorgfältig überprüft werden.
Die Urteile gegen Lucy Letby
Beginnen wir mit dem Ende des juristischen Verfahrens gegen Lucy Letby. Was war das Ergebnis der mehrjährigen Ermittlungen durch die nordenglische Polizei (Cheshire Police) und die britische Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service, CPS), die spätestens Mitte 2017 begann? Am 3.7.2018 wurde Lucy Letby erstmals offiziell verhaftet und des mehrfachen vollendeten und versuchten Mordes beschuldigt (officially charged). Insgesamt wurde sie drei Mal verhaftet, da sie zwei Mal gegen Kaution wieder entlassen wurde (bailed).
Der erste (große) Strafprozess gegen Lucy Letby am Crown Court Manchester begann am 10.10.2022 und dauerte insgesamt zehn Monate, von denen etwa neun Monate lang durchschnittlich 3-4 Tage pro Woche der Jury Beweise präsentiert und von den Anwälten plädiert wurde. Das längste Strafverfahren in der Geschichte Englands.
Hier die Links zu den Urteilen des Crown Court (Urteilsbegründungen im Volltext) in beiden erstinstanzlichen Verfahren sowie zum Berufungsurteil des Appeal Court. Das Folgende ist also das Ergebnis des Strafverfahrens "REX versus LUCY LETBY", Case No: 202303209B4, [2024] EWCA Crim 748:
- Urteil 1. Instanz (großes Verfahren) vom 21.8.2023: www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2023/08/LETBY-Sentencing-Remarks.pdf
- Urteil 1. Instanz (kleines Verfahren, Retrial) vom 5.7.2024: www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2024/07/LETBY-Sentencing-remarks-July-2024-Anonymised.pdf
- Berufungsurteil Court of Appeal vom 2.7.2024: www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2024/07/R-v-Letby-Final-Judgment-20240702.pdf
In England und Wales ist es seit 2022 zulässig, dass die Urteilsverkündung in Strafverfahren vor dem Crown Court von Fernsehteams gefilmt und übertragen werden. Anschließend sind diese Urteilsverkündungungen (sentencing remarks) dauerhaft auf YouTube verfügbar. Die Videos vermitteln einen Eindruck vom Richter, der die beiden Verfahren geleitet hat, Justice James Goss:
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Bemerkenswert für die Bewertung der Entscheidung durch die Jury sind folgende zwei Aspekte:
- dass die Staatsanwaltschaft Lucy Letby in insgesamt 22 Fällen angeklagt hatte, nämlich sieben vollendeter Tötungen und 15 versuchter Tötungen. Die 14 Schuldsprüche bedeuten somit gleichzeitig, dass die Staatsanwaltschaft die Jury in acht Fällen nicht überzeugen konnte. Einer dieser Versuchsfälle wurde dann als "Retrial" erneut angeklagt und Lucy Letby wurde schuldig gesprochen (dies ist der 15. Life Sentence), die übrigen sieben Anklagepunkte wurden nicht weiter verfolgt.
- dass die Jury sich auch nach 15 Tagen Beratung nicht zu einer einstimmigen Entscheidung durchringen konnte. Der Richter James Goss gestattete den Geschworenen daher, dass auch ein sogenanntes "majority verdict" genügt, also eine 10-2 Entscheidung. Im konkreten Fall war hier ohnehin nach dem 13. Tag der Beratung ein Juror weggefallen ("excused for good personal reasons"), also nur noch elf Geschworene übrig (sieben Frauen, vier Männer). Von diesen stimmten zuletzt, nach drei Wochen, zehn für "guilty".
Bei genauer Betrachtung zeigt sich somit, dass der von der Staatsanwaltschaft präsentierte Fall die Jury nicht so zweifelsfrei überzeugt hat, wie das "14 Mal lebenslänglich" auf den ersten Blick den Eindruck erweckt. In acht von 22 Anklagepunkten kam die Jury NICHT zu einem Schuldspruch und zwei von zwölf Juroren konnten sich nicht zu "guilty" durchringen.
Die Ausgangslage zu Prozessbeginn
Nachdem wir nun das forensische Resultat kennen, gehen wir zurück an den Anfang des Strafprozesses. Die Ausgangslage war für die englische Staatsanwaltschaft objektiv betrachtet eher schwierig:
- Kein Geständnis: Frau Letby bestreitet die Tatvorwürfe bis heute und besteht auf ihrer Unschuld.
- Kein direkter Beweis (no objective evidence, umgangssprachlich bezeichnet als "smoking gun"): So gibt es keinen einzigen Zeugen, der unmittelbar beobachtet hätte, dass Frau Letby einem Baby Luft oder Insulin injiziert, einen Intubationsschlauch entfernt oder ein Baby gewaltsam überfüttert hat. Auch belastendes Videomaterial von Überwachungskameras existiert nicht.
- Kein einheitliches Tatmuster (modus operandi, auch mode of operating): Laut Staatsanwaltschaft hat Frau Letby die (versuchten) Tötungen mit mindestens vier unterschiedlichen Tathandlungen ausgeführt, darunter Injektion von Luft in den Magen, Injektion von Luft in die Blutbahn, Injektion von Insulin in die Nahrungsbeutel oder manuelle Überfütterung. Es ist eher ungewöhnlich, wenn auch nicht beispiellos, dass Serientäter ganz unterschiedliche Vorgehensweisen anwenden.
- Kein erkennbares Motiv: Das Motiv in solchen Fällen ist naturgemäß rational nicht nachvollziehbar. Auch der Richter Justice Goss betonte in seiner Urteilsbegründung (siehe oben), dass das Verhalten "jedem natürlichen menschlichen Impuls widerspricht". Eine psychopathologische Störung oder ein übersteigerter Geltungsdrang ("ich führe eine Krise herbei, damit ich mich als Retter präsentieren kann, etwa durch Reanimation") waren im Fall Letby eher nicht erkennbar. Sie hatte ein aktives Privatleben und war unter Freunden und Arbeitskollegen beliebt. Bleibt der Staatsanwaltschaft also nur die These der "berechnenden Sadistin, die ein Doppelleben führt und perverse Freude am Töten von Babys und am Leid der Eltern empfindet". Psychiater spekulierten auf Sky News per Ferndiagnose über "angeborene psychopathische Tendenzen" und das "Münchhausen Stellvertreter Syndrom" (https://youtu.be/3hiUmfChCvA).
Lucy Letby Urteil beruht allein auf Indizienbeweisen
In dieser Konstellation bleibt der Staatsanwaltschaft nur die Möglichkeit, die Anklage auf Indizien zu stützen (lat. indicium, etwas weist darauf hin, dass ...). In der englischen forensischen Terminologie läuft dies unter "circumstantional evidence". Die Summe dieser Anzeichen muss so überzeugend sein, dass die Jury zum Ergebnis gelangt, dass ein Verbrechen vorliegt und dies Verbrechen "ohne vernünftigen Zweifel" nur vom Angeklagten begangen worden sein kann. Zur berühmten Rechtsfigur des "beyond reasonable doubt" später noch genauer.
Im konkreten Fall Lucy Letby bedeutet Indizienbeweis: medizinische Indizien. Die Staatsanwaltschaft, im Gerichtssaal repräsentiert durch Barrister Nick Johnson, KC, musste die Jury davon überzeugen, dass die naturgemäß hochempfindlichen Frühgeborenen auf der Neonatal-Station des NHS-Krankenhauses Chester nicht durch andere Umstände gestorben sein können (z.B. Infektion, angeborene Herzschwäche oder auch inkompetentes, überlastetes Personal), sondern definitiv aufgrund gezielter vorsätzlicher Tötung.
Nun erwartet man in einem derart dramatischen Fall einen Schlagabtausch hochqualifizierter medizinischer Experten. Im englischen Strafverfahren werden die Sachverständigen (expert witnesses) ja - anders als in Deutschland - nicht vom Gericht ausgewählt, sondern von den Parteien. Die wichtigste Person im gesamten Strafprozess war somit der medizinische Sachverständige der Staatsanwaltschaft (medical expert witness for the prosecution).
Warum sich an diesem Experten der Anklage, dem zur Zeit des Prozesses 74 Jahre alten ehemaligen Krankenhausdirektor Dr. Dewi Richard Evans aus Wales, hitzige Kontroversen entzündet haben, und Dr. Evans nun Beschimpfungen und Morddrohungen ausgesetzt ist, erläutere ich im nächsten Kapitel.
An dieser Stelle will ich aber zunächst auf die verblüffende Tatsache hinweisen, dass die Verteidigung von Lucy Letby im Verfahren der ersten Instanz keinen Gegenexperten aufgeboten hat, also keinen erfahrenen Chefarzt oder Universtätsprofessor, der die Darstellung des Experten Dr. Evans in Frage gestellt und der Jury alternative Todesursachen präsentiert hätte. Viele Kritiker des Urteils gegen Lucy Letby sehen darin das zentrale Versäumnis und Versagen des Verteidigungsteams. Denn die Ansichten und Schlussfolgerungen von Dr. Evans sind heute in vielen Punkten hoch umstritten und waren es auch bereits zur Zeit des Verfahrens. Der Hauptverteidiger von Frau Letby, der erfahrene Barrister und Kings Counsel Benjamin (Ben) Myers (www.exchangechambers.co.uk/people/benjamin-myers-kc/) stellte zwar die Kompetenz von Dr. Evans in Frage, bestritt dessen Eignung als Experte und stellte Antrag, dass das Gericht ihn als ungeeignet ablehnen soll. Als das Gericht diesem Antrag auf Ablehnung von Dr. Evans allerdings nicht folgte, bot die Verteidigung keinen Gegenexperten auf.
Dr. Dewi Evans - der umstrittene medizinische Sachverständige der Anklage
Zur Zeit des Gerichtsverfahrens (2022) war Dr. Evans bereits 13 Jahre im Ruhestand, denn er hatte 2009 aufgehört, als Arzt zu praktizieren. Er arbeitete aber als medizinischer Sachverständiger und Berater weiter und hat hierfür bis heute eine im UK Companies House registrierte Gesellschaft, die DEWI EVANS PAEDIATRIC CONSULTING LIMITED. Bereits vor dem Lucy Letby Prozess war Dr. Evans mehrfach als Experte für die englische Polizei und Staatsanwaltschaft tätig, vor allem in Fällen möglichen Kindesmissbrauchs.
Es werden verschiedene Versionen berichtet, wie Dr. Evans überhaupt als Experte zum Fall Letby kam. Es überrascht ja auf den ersten Blick durchaus, dass die Staatsanwaltschaft keinen aktuell im Bereich Neonatologie tätigen Chefarzt oder hochkarätigen Medizinprofessor für einen der spektakulärsten Serienmordprozesse Englands ausgewählt hat, sondern einen ehemaligen Direktor einer - walisische Leser mögen mir verzeihen - Provinzklinik (Singleton Hospital in Wales), der seit 2009 nicht mehr als Arzt praktizierte.
Nicht wenige Prozessanwälte bestreiten daher, dass Dr. Evans überhaupt ein geeigneter Experte sein konnte. Er berichtete nur aus seiner eigenen Berufserfahrung, nicht etwa aus qualitativ hochwertigen Studien zum Thema Kindersterblichkeit auf Frühgeborenenstationen mit breiter Datenbasis und Langzeitbetrachtung. Dieser Ansatz des sog. "anecdotal evidence" ("ich habe in MEINER Berufslaufbahn so etwas noch nicht gesehen, DAHER kann es keine andere Erklärung geben als ein Verbrechen") wird ebenfalls als unwissenschaftlich kritisiert. Denn die persönliche Berufserfahrung unterliegt wiederum vielen Faktoren. Hat ein Experte zum Beispiel in einem Krankenhaus in einer wohlhabenderen Gegend gearbeitet hat, in der die Bevölkerung im Durchschnitt gesünder lebt, weniger raucht, weniger Alkohol trinkt und in der es vielleicht weniger Luftverschmutzung gibt, so hat das erhebliche Auswirkungen auf die Anzahl der Komplikationen bei Frühgeburten. Dies nur als ein Beispiel, warum "anecdotal evidence" (persönlicher Erfahrungsbeweis) bei forensischen Wissenschaftlern als "junk science" verpönt ist.
Die Journalistin Rachel Aviv stellt ihn in ihrem Aufsehen erregenden Beitrag im New Yorker Magazine vom 13.5.2024 als wichtigtuerischen pensionierten Provinzarzt aus Wales dar, der sich der National Crime Agency (NCI), dem britischen Pendant zum FBI, selbst proaktiv angeboten hat und von Anfang an die These eines Serienmordes Vertrag. Er selbst bestreitet dies in diversen Interviews und behauptet, die Strafverfolgungsbehörden seien auf ihn zugekommen und er habe keineswegs von Anfang an die vorgefasste Theorie vorsätzlicher Tötungen im Kopf gehabt, sondern sich die unerwarteten Zusammenbrüche (unexpected collapses) der Frühgeborenen ganz objektiv angesehen. Daher bezeichnet er sich in Interviews auch als "independent expert witness", nicht als Sachverständiger der Anklage.
Hier ein TV-Interview von Dr. Dewi Evans kurz nach der Verurteilung von Lucy Letby zu 14 Mal lebenslänglich durch den Crown Court:
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Die Persönlichkeit, Auftreten und Überzeugungskraft von Experten sind im anglo-amerikanischen Strafprozess wegen des Jury-Systems noch erheblich wichtiger als in Deutschland.
Das Urteil beruht auf Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung
Wie bereits ausgeführt, existiert in diesem Fall kein direkter Beweis (no hard objective evidence). Die Anklage beruht vielmehr auf einer Hypothese, die wiederum durch Indizien gestützt wird.
Jeder einzelne Todesfall für sich genommen löste im Krankenhaus keinen Verdacht aus. Vielmehr gingen alle Beteiligten im Krankenhaus zunächst stets von einem natürlichen Tod aus. Die Todesbescheinigungen vermerkten keinen Verdacht auf "foul play". Es wurden keine Obduktionen vorgenommen.
Erst die Häufung von Todesfällen bzw. Krisensituationen innerhalb von mehreren Monaten führten etliche Monate später in Nachbetrachtung dazu, dass einige Ärzte am Krankenhaus den Verdacht äußerten, ob die Ursache so vieler "unexpected deaths" bzw. "unexpected collapses" von Frühgeborenen nicht vielleicht externe Einflüsse sein könnten, entweder Schlamperei oder gar vorsätzliche Schädigung durch Personal. Dabei war auffällig, dass die Neonatal-Kinderkrankenschwester Lucy Letby, damals 25 Jahre, scheinbar die einzige war, die bei diesen unerwarteten Todesfällen Dienst hatte.
Die Schnellversion der Entwicklung der nächsten Monate ab diesem Erstverdacht: Ärzte und Krankenhaus kamen zum Schluss, es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich in einem Zeitraum von gut 12 Monaten sieben Todesfälle und weitere Beinahe-Todesfälle ereignen, während dieser nur eine einzige Krankenschwester (fast) immer im Dienst war.
Das Verständnis von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung ist ein Dreh- und Angelpunkt des Falles, da die Anklage der Jury den Fal unter der Prämisse präsentiert hat: "Wie wahrscheinlich ist es, dass alle diese Todes- und Krisenfälle ausgerechnet immer bei Anwesenheit von Lucy Letby eintraten?"
Genau diese naive und mathematisch unrichtige Betrachtung von Wahrscheinlichkeit ist es, die die Royal Statistical Society und andere kritisiert haben. Zur Verdeutlichung ein Beispiel:
Wenn Sie fragen, wie wahrscheinlich es, dass ich am kommenden Samstag eine Million oder mehr im Lotto gewinne, dann ist die Antwort: 1 zu gut 15 Millionen, also faktisch so gut wie Null. Fragen Sie dagegen, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgend jemand am kommenden Samstag eine Million oder mehr gewinnt, dann ist die Antwort 1:2, also extrem hoch.
Ein typischer methodischer Fehler bei Wahrscheinlichkeitsüberlegungen ist es daher, die Betrachtung vorab auf eine bestimmte Person zu verengen.
Nun ist - allgemein betrachtet, also ohne sich vorab auf eine Person zu fokussieren - die Wahrscheinlich einer Häufung unerwarteter Todesfälle in allen Pränatal-Station des Vereinigten Königreichs, bei denen eine bestimmte Krankenschwester unglücklicherweise immer Dienst hat, erheblich höher 1:15 Millionen. Was also, wenn Lucy Letby einfach diese unglückliche "Lotto-Gewinnerin" ist.
Aber damit erschöpft sich die Kritik der Statistik und Mathematik-Profis nicht. Weitere Kritikpunkte - die vor Gericht nicht hinreichend untersucht wurden - sind:
- Welche Fälle wurden überhaupt als "unexpected deaths" in die Auswertung aufgenommen bzw. nicht aufgenommen? Wurden bei den als verdächtig ausgewählten Fällen alternative Todesursachen (Infektion, Erbkrankheit, Behandlungsfehler, Hygienemängel durch anderes Krankenhauspersonal usw.) hinreichend präzise untersucht und ausgeschlossen?
- Warum die Beschränkung der Betrachtung auf den Zeitraum der 13 Monate? Welches statistische Ergebnis sieht man, wenn man den Zeitstrahl nach hinten und vorne öffnet, d.h.: (a) gab es Häufungen von Todesfällen, während denen Frau Letby NICHT im Dienst war und (b) gab es - umgekehrt betrachtet - längere Phasen des Dienstes von Frau Letby, in denen nichts passiert ist?
Zusätzliche Kritikpunkte sind, dass bereits die Datengrundlagen schlampig ermittelt wurden. So wurde der Jury in mehreren Fällen präsentiert, dass Lucy Letby sich während eines Todes- oder Krisenfalls angeblich allein (also unbeobachtet) auf der Station befand, wobei sich nachträglich herausstellte, dass dies schlicht falsch war. Das elektronische Personalerfassungssystem der Klinik hatte bei einigen Mitarbeiterinnen nicht funktioniert, es sah also nur im Computer so aus, als wäre Frau Letby in diesen bestimmten Fällen alleine auf der Station gewesen.
In einem anderen Fall wurde der Jury präsentiert, dass Frau Letby anwesend gewesen sei, während einem Frühchen ohne medizinischen Grund angeblich Insulin verabreicht wurde. Es stellte sich heraus, dass Frau Letby zu dieser Zeit nicht im Dienst war. Sie hätte in diesem Fall also das Insulin in einen Nahrungsbeutel spritzen und "hoffen" müssen, dass die später diensthabende Schwester exakt diesen präparierten Beutel auswählt und einsetzt.
Eine ausführliche fachlich-methodische Kritik an der Präsentation des Datenmaterials und der angeblichen Wahrscheinlichkeiten durch die Staatsanwaltschaft finden Sie hier:
- Die 64seitige Stellungnahme der Royal Statistical Society vom September 2022 mit dem Titel "Healthcare serial killer or coincidence?" (hier der Link), insbesondere zu den Aspekten "Was sind überhaupt verdächtige Todesfälle (suspicious deaths)?", "Bestätigungsvorurteil (confirmation bias) und "Statistische Signifikanz":
- Artikel "Unlucky Numbers" in Science vom 19.1.2023 mit Zitaten des Statistikprofessors Richard Gill, Leiden Universität, Niederlande sowie des emeritierten Kriminologieprofessors William Thompson, University of California, Irvine: www.science.org/content/article/unlucky-numbers-fighting-murder-convictions-rest-shoddy-stats
- Podcast Times Radio vom 1.9.2024 mit dem Titel "Why some experts are doubting Lucy Letby's conviction", dort insbesondere das Interview mit Professor William Thompson: https://open.spotify.com/episode/4TVd2jPHX0RiTE8HU0THz7?si=5Negz7MPQMeZtT8PKcFhyg&nd=1&dlsi=036871ae611c4643 sowie auf YouTube: https://youtu.be/9sx3jnQ80V0
Ich maße mir als Rechtsanwalt nicht an, medizinische oder statistische Sachverhalte besser beurteilen zu können als die Prozessbeteiligten. Es erscheint allerdings ungewöhnlich und erklärungsbedürftig, warum die Kritik an der These "Die Häufung von Todesfällen kann kein Zufall sein" von den Strafverteidigern im Prozess nicht viel deutlicher und vehementer vorgetragen wurden, zumal die Royal Statistical Society sowie William Thompson diese Informationen noch während des laufenden Verfahrens an die Prozessbeteiligten, also auch die Verteidiger, übermittelt haben.
Das Verteidigerteam von Lucy Letby
Sehen wir uns also einmal genauer an, wer die Anwälte von Lucy Letby waren. Da nach dem Grundsatz "open justice" diese Informationen transparent ist, muss man hierfür nicht auf die Berichterstattung der Medien zurückgreifen, sondern man sieht sich einfach das Berufungsurteil an (www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2024/07/R-v-Letby-Final-Judgment-20240702.pdf), in dem die Prozessbevollmächtigten auf Seite eins aufgeführt sind:
Mr Benjamin Myers KC and Ms Fiona Clancy (instructed by Russell and Russell) for the Appellant
Wie stets in Großbritannien hat man es mit zwei Arten von Rechtsanwälten zu tun. Zum einen den Solicitors, die den Fall hauptsächlich bearbeiten, Beweise recherchieren und zusammen mit dem Beschuldigten/Angeklagten auch die generelle Prozess- und Verteidigungsstrategie festlegen. Zum anderen den Barristers, die den Fall vor Gericht präsentieren, eigene Zeugen befragen bzw. gegnerische Zeugen ins Kreuzverhör nehmen und Plädoyers halten. Barristers werden natürlich auch in die Diskussion über die beste Verteidigungsstrategie einbezogen, die Hauptverantwortung liegt aber bei den Solicitors, die (in Abstimmung mit dem Angeklagten) auch entscheiden, welche Barrister für die Gerichtsverhandlung beauftragt werden, siehe oben den Klammerzusatz "instructed by Russell and Russell".
Da Solicitors vor Gericht nicht das Wort ergreifen, sondern nur die Barristers, entsteht bei den Beobachtern und den Medien oft der falsche Eindruck, dass allein die Barristers wichtig sind und es sich bei den still in dritter Reihe sitzenden Solicitors nur um bessere Aktenträger und Assistenten handelt. Diese Vorstellung ist völlig falsch! Barristers recherchieren selbst nichts. Sie laden auch keine Zeugen oder Sachverständige und stellen keine Beweisanträge. Barristers können vor Gericht deshalb nur mit dem "Material" arbeiten, dass die Solicitor-Kanzlei zuvor zusammengetragen hat.
Ausführliche Informationen zur generellen Arbeitsteilung zwischen Solicitor und Barrister, deren verschiedenen Rollen vor und während des Gerichtsprozesses und dem "Machtverhältnis" zwischen den beiden Anwaltstypen in meinem Buch "Der Zivilprozess in England" und in diesem Blogbeitrag: www.cross-channel-lawyers.de/solicitors-barristers-und-solicitor-advocates-wer-darf-was/
Wer waren nun die Verteidger?
- Solicitor-Kanzlei Russell & Russell aus Nordwestengland: https://russellrussell.co.uk/advice-for-you/criminal-law
- Barrister Benjamin Myers, KC: www.exchangechambers.co.uk/people/benjamin-myers-kc/
- Barrister Fiona Clancy: www.exchangechambers.co.uk/people/fiona-clancy/criminal/
Kritik an den Verteidigern von Lucy Letby
Kollegenschelte im Nachhinein und von außen ist immer wohlfeil, soll heißen: Wir wissen nicht, worüber das Verteidigerteam über die fast zwei Jahre Prozessvorbereitung, Gerichtsverfahren erster Instanz und anschließender Berufung alles gesprochen hat und welche Verteidigungstaktiken die Anwälte von Frau Letby warum gewählt oder eben nicht gewählt haben. Einige Dinge erscheinen aber doch sehr ungewöhnlich. Unter anderem folgende Aspekte werden in den Medien und von einigen englischen Anwaltskollegen - mehr oder weniger deutlich - als Kritik geäußert:
- Die Kanzlei Russel & Russel mit Büros in der nordenglischen Provinz war dem Verfahren, immerhin dem längsten Strafprozess der englischen Geschichte, möglicherweise nicht gewachsen. Ich kann das offen gesagt nicht bewerten, es fällt aber schon auf, dass Russell & Russell nicht einmal Büros in Manchester oder Liverpool unterhält, von London ganz zu schweigen.
- Es wurde von der Verteidigung kein eigener medizinischer Experte benannt, der als Gegenexperte dem Sachverständigen Dr. Dewi Evans hätte Paroli bieten können. Zwar hat Barrister Ben Myers selbst den Experten sehr kritisch befragt, aber es hat für die Geschworenen nicht dieselbe Wirkung, ob der Anwalt der Verteidigung den Experten der Staatsanwaltschaft kritisch befragt oder ein hochkarätiger Chefarzt einer großen Kinderklinik - also ein Arztkollege auf Augenhöhe - in der Witness Box aussagt, dass er oder sie die Ausführungen des Dr. Evans für fachlich falsch hält und es alternative Erklärungen für die Todesfälle gibt. Ein solcher Gegenexperte wurde nicht benannt. Dies kann nun daran liegen, dass die Verteidigung einen solchen nicht für nötig hielt und sich darauf verließ, dass Dr. Evans vom Gericht abgelehnt wird. Das wäre dann in der Tat eine extrem riskante Verteidigungsstrategie gewesen. Es kann aber auch sein, dass die Verteidiger zur damaligen Zeit keinen renommierten Arzt gefunden haben, der bereit gewesen wäre, für Lucy Letby und - faktisch - gegen den NHS auszusagen. Es ist nämlich bei Strafverteidigern in UK ein bekanntes Problem, dass Mediziner nur äußert ungern in solchen Verfahren für die Verteidigung aussagen, denn tendenziell richtet sich die Aussage dann gegen den National Health Service (schlechte Hygiene, zu wenig Personal, veraltete Ausstattung usw.). Da die NHS aber faktisch ein monopolistischer Arbeitgeber im UK Gesundheitswesen ist, macht man sich die NHS ungern zum Feind.
- Die Argumente der Mathematik-Experten gegen die unwissenschaftliche "Wahrscheinlichkeitsthese" ("das kann kein Zufall sein") der Staatsanwaltschaft wurden nicht vehement genug vorgetragen, um das falsche Verständnis der Jury von "coincidences" zu erschüttern.
- Schließlich wurde auch die Entscheidung der Verteidiger kritisiert, Lucy Letby selbst als Zeugin zu vernehmen. Das hat aus Sicht erfahrener englischer Anwälte nämlich erheblich mehr Nachteile als Vorteile. Wenn die Verteidigung die Angeklagte als Zeugin in die Witness Box holt (englische Anwälte sagen nicht "witness stand"), hat dies zur Kensequenz, dass der Barrister der Staatsanwaltschaft die Angeklagte ins Kreuzverhör nehmen kann. Im konkreten Fall dauerte das Kreuzverhör durch den Barrister der Anklage neun volle Prozesstage! Da bei der Cross-Examination Suggestivfragen (leading questions) erlaubt sind, auf die der Befragte mit ja oder nein antworten soll, klang das neun Tage lang in etwa so: "Miss Letby, sie haben Baby A getötet, richtig?" - "Nein". "Miss Letby, Sie lügen, richtig?" - "Nein." Und so weiter und so fort. Das Transkript allein des Kreuzverhörs hat 12.000 Zeilen. Frau Letby hat sich im Kreuzverhör dabei keineswegs um Kopf und Kragen geredet. Es gab für die Anklage keinen "gotcha moment". Aber einen guten Eindruck macht man als Beklagter in einem solchen endlosen Kreuzverhör dennoch so gut wie nie. Als Befragter wird man dadurch nämlich fast immer zermürbt. Manche werden irgendwann aggressiv, andere - so Frau Letby - erscheinen irgendwann teilnahmslos. Beides macht einen ungünstigen Eindruck auf die Geschworenen. Laut den Prozessbeobachtern in den Medien sank Frau Letby während der neuntägigen Kreuzverhörs immer mehr in sich zusammen und wurde mit ihren Antworten über die Tage hinweg immer leiser. Die Staatsanwaltschaft dagegen konnte der Jury durch das Kreuzverhör den kompletten Fall nocht einmal frisch in Erinnerung rufen. Dass die Angeklagte zu allem immer nur "Nein" sagt, hat viel weniger Wirkung, als die Darstellung des Sachverhalts durch den prosecution Barrister im Weg der Suggestivfragen. Viele Verteidiger schütteln daher den Kopf über die Entscheidung, Lucy Letby als Zeugin in eigener Sache aufzurufen. She had nothing to gain.
Die Kritik am Urteil erreicht die breite Öffentlichkeit
Während die Bedenken der Royal Statistical Society und einiger weiterer Mathematiker und Kriminologen bereits während des noch laufenden Verfahrens bestanden, aber von kaum jemandem zur Kenntnis genommen wurde, kam der mediale Paukenschlag in Form des oben bereits erwähnten Artikels im New Yorker Magazine vom 13.5.2024 mit dem Titel:
"A British Nurse Was Found Guilty of Killing Seven Babies. Did She Do It?"
Darin untersucht die renommierte US-amerikanische Reporterin Rachel Aviv den Fall unter der Prämisse: Was, wenn es überhaupt kein Verbrechen gegeben hat? Kann der ganze Fall nur das Ergebnis von "confirmation bias" sein, also dem bekannten psychologischen Phänomen, dass Informationen so wahrgenommen und interpretiert werden, dass sie zu einer bestimmten vorgefassten These passen. Anhaltspunkte für Alternativen werden ignoriert oder uminterpretiert.
Der New Yorker Magazine-Artikel erschien am 13. Mai 2024, also nach den mündlichen Anhörungen im Berufungsverfahren (appeal hearings) vom 22.-25. April 2024, aber noch sechs Wochen vor der Urteilsverkündung durch den Court of Appeal am 2.7.2024.
Nur half das der Verteidigung nichts mehr. Denn eine Besonderheit des englischen Strafverfahrens ist, dass während eines noch laufenden Prozesses (auch in der Berufungsphase) sehr strenge Berichterstattungsverbote gelten ("reporting restrictions"). Medien dürfen also nur sehr eingeschränkt über einen Fall berichten, solange dieser nicht endgültig entschieden ist. Grund dafür: Die Jury soll durch Medienberichterstattung nicht beeinflusst werden. Anders als in den USA werden geschworene in England nämlich nicht "kaserniert", also in einem Hotelzimmer von der Öffentlichkeit und den Medien abgeschirmt. Englische Geschworene gehen am Verhandlungstag um 16 Uhr nach Hause, können also Zeitung lesen, im Internet surfen und Fernsehen. Damit die Geschworenen nichts zu hören oder zu sehen bekommen, was nicht bereits Gegenstand des Prozesses war, sie also im Gerichtssaal bereits gehört haben, wird die Berichterstattung streng reglementiert. Wer das nicht glaubt, hier der Link zu der 62-seitigen offiziellen Broschüre der englischen Justiz mit dem Titel "Reporting Restrictions in the Criminal Courts": www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2022/09/Reporting-Restrictions-in-the-Criminal-Courts-September-2022.pdf
Für den New Yorker Artikel von Rachel Aviv bedeutete dies: Er durfte im Vereinigten Königreich unter Androhung von Strafe nicht erscheinen. Die Printausgabe dieses New Yorker Magazine durfte also in UK nicht verkauft werden und der Website-Link zur Online-Ausgabe war in UK gesperrt.
Dies wiederum brachte den langjährigen Abgeordneten und Ex-Minister David Davis so auf die Palme, dass er seine Redezeit im englischen Parlament dazu nutze, auf diesen Artikel hinzuweisen und erstmals Kritik am Verfahren gegen Lucy Letby zu äußern (www.daviddavismp.com/tory-mp-sir-david-davis-says-new-yorker-article-questioning-letby-evidence-should-be-available-in-uk/).
MP David Davis setzt sich seither konsequent dafür ein, dass das Strafverfahren noch ein mal an den Court of Appeal zurückverwiesen wird, um die Kritikpunkte zu klären und den Zweifeln an der Verurteilung nachzugehen. Seine Argumente fasst er in einem spannenden Interview auf itv vom 2.9.2024 wie folgt zusammen:
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Besonders interessant und explosiv an diesem Interview ist, dass David Davis darin - recht überzeugend - behauptet, dass etliche hochrangige Krankenhausärzte auf ihn zugekommen seien und ihm gesagt hätten, dass sie die Thesen des Prosecution Expert Dr. Evans für falsch halten und es für jeden einzelnen Fall eine alternative Erklärung für eine natürliche Todesursache gibt. MP Davis weist einige Male im Nebensatz darauf hin, dass dies hochqualifizierte Ärzte "im aktiven Dienst" sind, eine unverkennbare Spitze gegen den zur Prozesszeit 75-Jährigen Dr.Evens, der seit 2009 nicht mehr als Arzt praktizierte. Noch brisanter ist die Behauptung von David Davis, dass einige dieser Ärzte auch frühzeitig auf das Verteidigerteam zugegangen sei, dort aber keiner darauf reagiert habe. Stimmt diese Behauptung, wäre es wohl tatsächlich ein massiver Fehler des Verteidigungsteams.
Weitere medienwirksame Unterstützung erhält die Fraktion der Befürworter einer Wiederaufnahme des Verfahrens durch den Intellektuellen und Publizisten Peter Hitchens, Bruder des verstorbenen Christopher Hitchens. Seine Argumente und Bedenken am Verfahren und der Verurteilung hat er mittlerweile in mehreren Interviews und Diskussionen veröffentlicht:
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Zudem hat eine Gruppe von 19 Kinderkrankenschwestern einen offenen Brief an den Premierminister Keir Starmer geschrieben und mitgeteilt, dass sie wegen der Verurteilung von Frau Letby nun Angst haben, weiter als Krankenhausschwestern für die NHS zu arbeiten und dadurch Gefahr zu laufen, bei einer Häufung von Todesfällen oder sonstigen Krisensituationen einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt zu sein: www.telegraph.co.uk/news/2024/08/26/nurses-terrified-working-nhs-lucy-letby-conviction/
Eine Sprecherin der Gruppe von Neonatal-Nurses an NHS-Krankenhäusern, die anonym bleiben möchten, um nicht entlassen zu werden, teilte ihre Sicht der Dinge mit wie folgt:
'After each case it became apparent that we were talking about babies born barely viable for life, with pre-existing congenital medical conditions as well as a lot of sub-optimal care.'
Übersetzt: "Nach jedem Fall wurde offensichtlich, dass wir hier über Babys sprechen, die kaum lebensfähig geboren wurden, mit angeborenen Erkrankungen und sub-optimalen Pflegebedingungen.
Soll heißen, die Krankenschwestern wollen nicht als Sündenböcke dafür herhalten müssen, wenn es wegen schelchter Krankenhausbedingungen zu einer Häufung von Todes- oder Krisenfällen kommt.
Wie geht es nun weiter?
Der formelle Rechtsweg ist ausgeschöpft. Das Urteil ist rechtskräftig. Somit hat Frau Letby nur mehr die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung ihres Falles an die Criminal Case Review Commission (CCRC) zu stellen. Diese Anträge haben im Normalfall wenig Aussicht auf Erfolg und dauern Jahre. Im Fall Letby könnte dies wegen der Medienaufwirksamkeit und der immer lauter werden Kritik am Strafverfahren anders sein, da ein enorm hoher Druck entsteht. Die Medienberichterstattung wird voraussichtlich nicht nachlassen, auch wegen der prominenten Befürworter einer Wideraufnahme des Verfahrens. Der Telegraph (stellvertretend genannt für zahlreiche britische Medien) hatte im September 2024 fast jede Woche eine Schlagzeile pro Letby und contra NHS bzw. Krankenhaus, zum Beispiel:
- www.telegraph.co.uk/news/2024/09/06/spike-in-deaths-at-letby-hospital-could-be-explained/
- www.telegraph.co.uk/news/2024/09/09/lucy-letby-conviction-unsafe-says-boris-johnson-adviser/
Zudem läuft seit September 2024 auch eine offizielle Untersuchung der Umstände und Vorgänge am Countess of Chester Hospital, die sogenannte "Thirlwall Inquiry" (https://thirlwall.public-inquiry.uk/), benannt nach Lady Justice Thirlwall, die die Untersuchung leitet. Der Zweck dieser Untersuchung (https://thirlwall.public-inquiry.uk/about/terms-of-reference/) ist es ausdrücklich NICHT, entlastende Umstände für Lucy Letby zu finden, im Gegenteil hat sich Lady Thirlwall klar von der "Kampagne gegen das rechtskräftige Urteil" distanziert. Dennoch werden in dieser Untersuchung voraussichtlich die desolaten Zustände am Chester Hospital ans Licht kommen, die - indirekt - doch entlastende Indizien zugunsten von Lucy Letby darstellen könnten (schlechte Hygiene, Understaffing, schlechte Organisation u.a.m.).
Es gibt auch Stimmen, die fordern, dass Premierminister Keir Starmer eine Royal Commission einsetzt, die - anstatt der CCRC - über eine Wideraufnahme des Falles entscheidet. Ob PM Starmer dazu bereit ist, halte ich persönlich derzeit für eher unwahrscheinlich. Es wird daher wohl eher auf einen Antrag an die CCRC hinaus laufen.
Diesen bereitet das neue Anwaltsteam von Lucy Letby laut Medienberichten bereits intensiv vor. Barrister Mark McDonald hat laut eigener Aussage den Fall auf pro bono Basis übernommen. Dieser hatte sich bereits nach dem Urteil in einem Podcast erstaunlich deutlich kritisch geäußert. Erstaunlich deshalb, weil Barristers traditionell sehr zurückhaltend und vorsichtig sind, was Kritik an der Justiz angeht. Die Standesorganisation der englischen Barrister hat sogar eine Hanreichung zum Thema "Meinungsäußerungen von Barristers gegenüber den Medien" ("Expressing personal opinions to/in the media"), siehe hier: www.barcouncilethics.co.uk/wp-content/uploads/2017/10/Media-Comment.pdf
Hier der Link zu dem hörenswerten Interwiew mit Barrister Mark McDonald..
Persönliches Fazit
Die englische Strafjustiz steht sehr wahrscheinlich vor einem Stresstest. Die Stimmen der Kritiker an der Verurteilung werden - zumindest derzeit - immer lauter. Sollte das Urteil gegen Lucy Letby tatsächlich noch einmal überprüft und dann möglicherweise sogar gekippt werden, stellen sich viele Fragen zum englischen Strafprozess: Sind die Berufungsfristen zu kurz? Wie kann das englische Jurysystem mit solchen reinen Indizienprozessen umgehen, die auf Wahrscheinlichkeiten beruhen? Welche Qualifikation muss ein "Expert Witness" in einem solchen Fall überhaupt mitbringen ("not just anecdotal evidence")? Wie soll die Strafjustiz generell mit dem Thema "Junk Science" umgehen? Die USA sind hier schon weiter, siehe hier: The Impact of False or Misleading Forensic Evidence on Wrongful Convictions
Ob Frau Letby unschuldig ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Fakt ist allerdings: "The jury sometimes gets it wrong". Dies belegen frühere tragische Justizirrtümer ("miscarriages of justice") in Großbritannien wie:
- "The Birmingham Six" (Why the Birmingham Six's story must not be forgotten)
- "The Guildford Four and Maguire Seven" (https://en.wikipedia.org/wiki/Guildford_Four_and_Maguire_Seven)
- Sally Clark (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1125181/)
- Barry George (https://evidencebasedjustice.exeter.ac.uk/case/barry-george/)
- Andrew Malkinson (https://appeal.org.uk/andy-malkinson/)
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