
Was sind die Aufgaben, Rechte und Pflichten von Geschworenen im Strafgerichtsverfahren in England?
Wer in England oder Wales eine Straftat begeht, findet sich entweder vor dem Magistrates' Court oder - bei schweren Delikten - vor dem Crown Court wieder. Die Zuständigkeiten dieser beiden Criminal Courts sind in Section 51 Crime and Disorder Act 1998 geregelt (abgekürzt CDA 1998). Jugendstrafgerichte (Youth Courts) entscheiden über Fälle leichter Kriminalität begangen durch Täter im Alter von 10 (!) bis 17 Jahren. Über schwere Delikte entscheidet auch bei Jugendlichen der Crown Court. Ich hatte ja bereits in diesem Beitrag dargestellt, dass das englische Strafrecht erheblich strenger ist als in Deutschland.
Die Jury als "fact finder"
Strafverfahren vor dem Crown Court werden in aller Regel vor einer 12-köpfigen Jury verhandelt. In seltenen Fällen entscheidet nur der Strafrichter allein ("judge-alone trials" oder "non-jury trials" genannt), Details hier. Es kommen, auch wegen der Überlastung der englischen Strafjustiz (Details hier) immer wieder Diskussionen auf, ob das Jury-Verfahren nicht abgeschafft oder zumindest auf Schwerstkriminalität beschränkt werden soll (siehe hier).
Stand heute ist der Regelfall am Crown Court aber nach wie vor der jury trial, basierend auf dem Jahrhunderte alten Rechtsgrundsatz, dass man nicht durch die Obrigkeit (den König) verurteilt werden soll, sondern durch "eine Gruppe von Seinesgleichen", a jury of peers. In der Magna Carta von 1215 liest sich das so:
No free man shall be seized, imprisoned, dispossessed, outlawed, exiled or ruined in any way, nor in any way proceeded against, except by the lawful judgement of his peers and the law of the land.
Diese Geschworenen in England und Wales (Schottland hat andere Verfahrensregeln) werden vom Jury Central Summoning Bureau (JCSB) per Zufallsprinzip aus dem Wählerregister (electoral register) gezogen und für einen bestimmten Tag bzw. eine Reihe von Tagen (bis maximal 10 Werktage) zu Gericht geladen (summoned). Verweigern kann man sich dem Jury Dienst nur mit zwingenden Gründen (z.B. dringender Krankenhausoperation). Zur Frage, wer als Geschworener ungeeignet ist und wie die Endauswahl für einen konkreten Strafprozess erfolgt, hier die Richtlinien der englischen Staatsanwaltschaft zum Thema "jury vetting".
Die Chance oder das Risiko (je nach Betrachtungsweise), irgendwann in seinem Leben als Geschworener für einen Strafprozess in England oder Wales "gezogen" zu werden, ist ziemlich hoch. Allein im Jahr 2023 durften bzw. mussten 197.007 Bürger ihrer Pflicht zum Jury-Dienst nachkommen. Freiwillig melden kann man sich übrigens nicht, es gilt ausschließlich das Zufallsprinzip.
Die Aufgabe der Jury ist es, sich im Gerichtsprozess (criminal trial) eine Meinung über die streitigen Tatsachen (matters of fact in dispute) zu bilden und (nur) auf Basis dieser im Lauf des Gerichtsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten (the defendant's guilt or innocence) zu entscheiden. Diese Entscheidung der Jury im englischen Strafprozess nennt man "verdict". Dies ist aber noch nicht das eigentliche Strafurteil. Das Strafurteil (criminal sentence) erfolgt in einem zweiten Schritt, meist an einem separaten Termin, durch den Strafrichter. Mehr zu dieser Verlesung des Strafurteils in diesen Beiträgen:
- Verlesung des Strafurteils wird in England auf YouTube übertragen
- Droht der britischen Justiz im Lucy Letby Prozess ein Skandal?
Der Judge als "Verfahrens-Schiedsrichter" und "Erklärer des Rechts"
Die Aufgabe der Richterin bzw. des Richters am Crown Court ist es, die Einhaltung der Verfahrensabläufe (criminal procedure rules) zu überwachen, die Geschworenen über Rechtsfragen zu informieren, insbesondere die entscheidungsrelevanten Aspekte zu erklären und die Jury zu instruieren (direct the jury as to the relevant law). Die Geschworenen entscheiden also nicht über rechtsfragen, sondern über Tatsachen, daher wird die Jury auch als "fact finder" bezeichnet.
Kommt die Jury nach der Beratung (deliberation) zum Ergebnis "guilty", entscheidet der Richter - wie oben bereits erwähnt - später in einem zweiten Schritt über das Strafmaß.
Das verdict der Jury muss prinzipiell einstimmig erfolgen, d.h. alle zwölf Geschworenen müssen sich auf schuldig oder unschuldig einigen (unanimous jury verdict). Allerdings kann das englische Strafgericht seit 1967 der Jury gestatten, eine 10-2 Entscheidung zu fällen. Solche "Mehrheitsentscheidungen" (majority jury verdicts) sind mittlerweile in England gängige Praxis, wenn auch nicht unumstritten, da die Abkehr vom jahrhundertelang geltenden Einstimmigkeitsprinzip wohl darauf zurückgeht, dass in den USA der 1960er Jahre die Stimmen vereinzelter schwarzer Jury-Mitglieder unterdrückt werden sollten (Details hier).
Kann die Jury sich in ihrer Beratung nicht einmal auf zehn Stimmen einigen, ist der Strafprozess gescheitert, es liegt ein sog. mistrial vor, d.h. der Angeklagte wurde weder für schuldig befunden noch freigesprochen. In diesen Fällen muss die englische Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) entscheiden, ob sie einen zweiten Strafprozess gegen den Angeklagten beantragen will, einen sog. re-trial. Details dazu in den Richtlinien für die Staatsanwaltschaft hier. Scheitert auch der re-trial, besteht theoretisch die Option auf einen dritten Strafprozess, was in der Praxis aber extrem selten vorkommt.
Strenge Geheimhaltungspflichten für Geschworene in England
Interessant ist, wie das englische Recht mit der Frage umgeht, wie man eine Beeinflussiung von Geschworenen verhindert. In den USA geschieht dies meist dadurch, dass die Jury-Members abgeschottet werden, also während der Verhandlungsdauer in einem Hotel "kaserniert" werden, wo sie keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugriff auf Medienberichterstattung haben. Die Geschworenen sollen über den konkreten Fall nur die Informationen erhalten, die im Gerichtssaal diskutiert werden.
Das englische Recht geht hier einen anderen Weg: Es erlässt häufig Berichterstattungsverbote (reporting restrictions) vor und während des laufenden Strafverfahrens. Diese gelten für Medien, aber auch für Privatpersonen wie Blogger oder Podcaster.
Die Geschworenen selbst sind verpflichtet, mit niemandem über den Fall zu sprechen, nicht einmal mit dem Ehepartner. Ob das immer klappt, kann sich jeder selbst überlegen. Hier sei das Benjamin Franklin zugeschriebene Bonmot zitiert:
"Three may keep a secret, if two of them are dead."
Im Unterschied zu den USA darf ein Jury-Mitglied eines Strafverfahrens in England übrigens selbst dann nichts über die Beratung der Geschworenen (jury deliberations) ausplaudern, wenn der Strafprozess endgültig abgeschlossen ist. Die aus Netflix True Crime Dokus bekannte Szene, wenn ehemalige Geschworene darüber berichten, wie und warum sie zu einer Entscheidung gekommen sind, ist nach englischem Recht nicht erlaubt. Hierüber werden Geschworene in England ausdrücklich belehrt und ein Verstoß wird als "contempt of court" streng bestraft.
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