
Das Grundgerüst der rechtlichen Argumentation eines englischen Prozessanwalts
Wer in England einen Zivilprozess führt, hört häufig den Begriff "skeleton argument", vor allem wenn es auf die mündliche Verhandlung zugeht (in England nicht wie in USA als "hearing" bezeichnet, sondern als "trial", worunter man in USA wiederum das gesamte Zivilverfahren versteht).
Nach der englischen Zivilprozessordnung ist nicht das Gericht für die Aktenführung zuständig, sondern die Anwälte der Prozessparteien, insbesondere die Solicitors der Klagepartei. Da eine solche Prozessakte (trial bundle) viele 100 Seiten umfasst, in Wirtschaftsprozessen gerne auch mehrere 1.000 Seiten, verlangt die englische ZPO, dass die jeweiligen Prozessanwälte dem Gericht auch eine Zusammenfassung vorlegen.
Rechtliche Zusammenfassung des Prozessstoffes (case summary, skeleton argument)
Jede Partei, in der Regel deren barrister in Abstimmung mit den solicitors, bereitet rechtzeitig vor dem ersten Verhandlungstermin eine Zusammenfassung des Falles vor, die case summary, in der englischen Prozesspraxis meist als „skeleton argument“ bezeichnet, wörtlich übersetzt also „das Gerippe der Rechtsargumente“. Deutsche Juristen würden wohl eher sagen: ein stichpunktartiges juristisches Prüfschema.
Diese Zusammenfassung soll sowohl dem Gericht wie auch den Parteien dabei helfen, den Überblick zu behalten und sich auf die für die Entscheidung wesentlichen Punkte zu fokussieren. Die jeweiligen barrister arbeiten in den skeleton arguments heraus, welche entscheidungsrelevanten Fakten nach Austausch der Schriftsätze noch streitig sind und wer für diese Punkte die Beweislast trägt. Ebenso werden darin knapp und präzise die aus Sicht der jeweiligen Partei relevanten Rechtsargumente dargelegt, untermauert durch einschlägige Rechtsprechung (case law, precedent), die dem Gericht in Form einer reading list vorgelegt wird.
Die Kunst besteht darin, dem Gericht so knapp, stringent und präzise wie möglich die Argumentation darzulegen. Der Gedankengang im skeleton argument sollte in aller Regel auch den Leitfaden für die mündliche Präsentation des barristers in der Verhandlung bilden.
Gerichte reagieren gereizt, wenn die case summary ausufert oder der barrister sich beim mündlichen Vortrag im trial dann nicht daran orientiert. In der berühmt gewordenen Entscheidung des englischen High Court R v Secretary of State for the Environment [2017] EWHC 2259 rügt Judge Holgate in zwei Absätzen (Randziffern 11 und 12) des Urteils, dass die Parteien (insbesondere die Klägerseite) durch ein aufgeblähtes trial bundle, ausufernde und wenig verständliche skeleton arguments dem Gericht die Arbeit erschwert und damit die begrenzten Ressourcen der Justiz verschwendet haben. Ein Auszug aus Rdnr. 11:
“…such practices are likely to result in more time needing to be spent by the judge in pre-reading material so as to penetrate or decode the arguments being presented, the hearing may take longer, and the time needed to prepare a judgment may become extended. Consequently, a disproportionate amount of the Court’s finite resources may have to be given to a case prepared in this way and diverted from other litigants waiting for their matters to be dealt with. Such practices do not comply with the overriding objective and the duties of the parties (CPR 1.1 to 1.3). They are unacceptable.“
Die Auswahl der relevanten Dokumente und Informationen ist und bleibt für englische Prozessanwälte eine schwierige Gratwanderung. Einerseits soll man dem Gericht alle relevanten Informationen und einschlägigen Präzedenzurteile mundgerecht aufbereiten, andererseits beschwert sich das Gericht - wie soeben gesehen - wenn die Akte zu dick wird.
Weitere Informationen zum Ablauf des Zivilprozesses in England
- Ablauf eines Zivilprozesses am High Court in England
- Der Zivilprozess in England
- Welches Gericht ist in England wofür zuständig?
- Gerichtsgebühren bei Zivilprozess in England
- Wie findet man den richtigen Anwalt in England?
- Warum es so umständlich ist englische Anwälte zu mandatieren
Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse, Familienrecht sowie grenzüberschreitende Nachlassabwicklung. Im Beck-Verlag verantwortet er den Länderbericht zum Familienrecht von England und Wales sowie das Praxishandbuch zum englischen Zivilprozess. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Der Ablauf des Zivilprozesses in England und Wales im Detail" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".

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