
Während des Strafgerichtsverfahrens in England muss der Angeklagte in eine Art "Käfig"
Das englische Strafrecht und vor allem auch das Strafprozessrecht in England sind erheblich schärfer als in Deutschland. Ein eklatantes Beispiel für das stellenweise immer noch archaische englische Strafrecht ist "the dock", ein abgetrennter Bereich innerhalb des englischen Strafgerichtssaals, in dem der Angeklagte während der gesamten Hauptverhandlung sitzen oder stehen muss.
In alten Gerichtssäälen, wie im "Old Bailey" in London befindet sich "the dock" ganz hinten im Saal und etwas erhöht, gesichert durch metallene Gitterstäbe. In moderneren Gerichtssäälen befindet sich der "Angeklagtenkäfig", wie auf dem Beitragsfoto zu sehen, hinter den Anwaltsbänken und vor dem Zuschauerraum und ist mit stabilem Sicherheitsglas umgeben. Manchmal (seltener) ist diese Angeklagtenbox auch seitlich angeordnet.
Traditionell werden die Angeklagten durch einen gesonderten Eingang von hinten direkt "in the dock" geführt, wo sie dann während des gesamten "criminal trial" neben Sicherheitsbeamten sitzen bzw. stehen. Das gilt wohlgemerkt nicht nur für Angeklagte, denen ein Gewaltverbrechen vorgeworfen wird, sondern für alle Angeklagten in England, auch wenn es um "white collar crime" geht. Sogar Jugendliche müssen als Angeklagte "in the dock".
Kritik am "dock" und am altmodischen Aufbau der englischen Strafgerichtssääle
Als Strafverteidiger erkennt man sofort, welche Probleme diese Tradition des "dock" mit sich bringt:
- Der Angeklagte wird als "gefährlich" stigmatisiert, weil er in einem Gitterkäfig oder hinter Sicherheitsglas sitzen muss. Das macht auf die Geschworenen (mindestens unbewusst) einen negativen Eindruck.
- Die Kommunikation zwischen Angeklagtem und seinem Strafverteidiger ist schwer bis unmöglich: Der Verteidiger sitzt nämlich mehrere Meter vom Angeklagten entfernt und mit dem Rücken zu seinem Mandanten, weil der Verteidiger nach vorne zur Richterbank oder seitlich zu den Geschworenen blickt. Will der Angeklagte seinem Anwalt also etwas mitteilen, zum Beispiel dass ein Zeuge seiner Meinung nach gerade gelogen hat (und warum), muss er sich zuerst bei seinem eigenen Anwalt bemerkbar machen, also etwa an die Scheibe klopfen. Der Anwalt muss dann die Zeugenvenehmung unterbrechen, zu seinem Mandanten gehen und mit diesem durch die Glasscheibe oder Gitterstäbe flüstern. All das ist umständlich, wenig subtil und macht bei der Jury keinen guten Eindruck ("Was will der Angeklagte jetzt schon wieder?"). Die erschwerte Kommunikation zwischen Verteidiger und Mandant wird von vielen Juristen als Beeinträchtigung des Prinzipis eines fair trial gesehen.
Historisch hat der Aufbau eines Strafgerichtssaals in England natürlich den Zweck, Richter und Anwälte vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen. Wie oben erwähnt, müssen aber auch solche Angeklagte dort sitzen, denen zum Beispiel Wirtschaftskriminalität, Insolvenzbetrug (Boris Becker) oder Steuerhinterziehung vorgeworfen wird. Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Verteidger den Antrag stellen, dass der Angeklagte außerhalb des dock sitzen darf, neben oder hinter seinem Anwaltsteam. In der Praxis wird davon aber sehr selten Gebrauch gemacht. Wie bei Perücken, Roben und zahlreichen weiteren Anachronismen hält die englische Justiz auch hier trotz Kritik an ihren Traditionen fest.
Ausführliche Hintergründe zu dieser Praxis des "dock" bei englischen Strafgerichtsprozessen, die wesentlichen Kritikpunkte sowie Refomvorschläge finden sich in dem Bericht "In the Dock. Reassessing the use of the dock in criminal trials" der seit 1957 bestehenden Organisation Justice.org.uk. Hier zum Download als PDF:
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Der Münchener Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl ist seit gut 25 Jahren Experte für deutsch-britisches Recht. Er berät Mandanten und Anwaltskollegen bei grenzüberschreitenden Fällen, betreibt mehrere Expertenblogs zum deutsch-englischen Recht und gefragter Interviewpartner zu Fragen des englischen Rechts, etwa kürzlich zum Justizskandal rum um die wohl unschuldig zu 15 Mal Lebenslänglich verurteilte englische Kinderkrankenschwester Lucy Letby.

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