
eDisclosure: Prozessparteien in England müssen dem Gegner auch digitale Daten zugänglich machen
Deutschen Unternehmen und ihren deutschen Rechtsberatern ist das Prinzip der "disclosure" fremd, also die Verpflichtung, dem Gegner in einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung von sich aus (proaktiv) alles (!) offen legen zu müssen, was mit dem Rechtsstreit zusammenhängt. Die deutsche ZPO und das deutsche materielle Recht kennt keine solche Pflicht, sich gegenüber dem Prozessgegner gläsern zu machen.
Gerät eine deutsche Firma in eine wirtschaftsrechtliche Auseinandersetzung mit einem britischen Geschäftspartner, sind die Unternehmensinhaber oft entsetzt, wenn ihnen die englischen Prozessanwälte erklären, dass Unterlagen, E-Mails, interne Memos und Aktennotizen, technische Aufzeichnungen usw. dem Gegner offengelegt werden müssen. Dieser Schock kommt für das Management des deutschen Mittelständlers (und dessen Rechtsabteilung, die vielleicht naiv englisches Recht im Vertrag akzeptiert hat) ziemlich bald. Denn die englische Anwaltskanzlei, die man konsultiert, wird einem sofort einen mehrseitigen "client information letter" schicken, der darauf hinweist, dass man fallrelevante Daten, Unterlagen und Korrespondenz ab sofort keinesfalls mehr löschen oder vernichten darf. Ja man muss sogar Schritte unternehmen, eine turnusmäßige Löschung von Daten zu verhindern.
Ein Beispiel eines solchen Mandanten-Informationsbrief zum Thema Offenlegungspflicht im englischen Zivilprozess habe ich hier zum Download eingestellt.
Ist eine Klage in England angesichts der Offenlegungspflicht überhaupt sinnvoll?
Jeder potentielle Kläger, der einen Zivilprozess in England in Betracht zieht, muss sich daher vorher im Rahmen einer professionellen "litigation due diligence" fragen: Kann ich den Fall vor einem englischen Zivilgericht (County Court oder High Court) überhaupt gewinnen, wenn ich dem Gegner proaktiv alle Interna offenlegen muss (etwa Messwerte und Fehlerprotokolle, interne Kommunikation zwischen meinen Ingenieuren usw.). Denn disclosure nach englischem Recht bedeutet schlicht:
"Show me everything you have on the matter!"
Die englische Zivilprozessordnung sieht in Part 31 (mit den dazugehörigen Practice Directions) vor, dass die Prozessparteien sich wechselseitig alle prozessrelevanten Dokumente und Unterlagen zur Verfügung stellen müssen. Diese disclosure-Pflicht verhindert, und genau das ist der Zweck, dass man die Schwachstellen des eigenen Anspruchs vor der Gegenseite versteckt. Die englische Zivilprozessordnung stellt die "objektive Wahrheit" in den Vordergrund.
Daher sollten potentielle Kläger vorab eine intensive interne Bestandsaufnahme durchführen (litigation due diligence). Existieren schädliche Dokumente (incriminating paper trail), insbesondere interne Korrespondenz zwischen Mitarbeitern oder zwischen Mitarbeitern und externen Subunternehmern, Zulieferern usw.? Solche internen Dokumente, in denen zum Beispiel Sätze stehen wie „die von uns gelieferte technische Anlage hatte im Probebetrieb erhebliche Ausfälle, deren Ursache wir nicht vollständig klären konnten“, sollten nicht erst im laufenden Zivilprozess auftauchen, sondern dem Kläger vor der Entscheidung bekannt sein, ob man überhaupt ein Verfahren startet.
Man kann sich vorstellen, wie schwierig es ist, die interne E-Mail-Korrespondenz unter den projektbeteiligten Mitarbeitern eines Großunternehmens hierauf zu durchkämmen. Zudem kollidiert das deutsche Datenschutzrecht hier sehr schnell mit dem englischen disclosure Prinzip.
Deutsche Rechtsanwälte, die noch nie mit englischen Zivilprozessen zu tun hatten, unterschätzen die Dramatik meist völlig. Daher nochmal ganz konkret:
Ab dem Zeitpunkt, ab dem sich eine Prozesspartei bewusst ist, dass es zu einem Rechtsstreit kommen kann, ist diese nach englischem Recht verpflichtet, alle (potenziell) relevanten Unterlagen und Dateien aufzubewahren und diese sogar aktiv zu sichern (duty to preserve documents in the anticipation of litigation). Selbst turnusmäßige automatische Datenlöschungen müssen sofort gestoppt und verhindert werden. Bereits gelöschte Daten müssen - soweit möglich - wieder Dies betrifft alle „documents“ (inkl. EDV-Dateien), die sich „in the party’s control“ befinden, also auch Dokumente und Dateien bei Mitarbeitern, externen Dienstleistern (agents), Tochtergesellschaften, Steuerberatern und Anwälten. Ob und inwieweit hier ein legal privilege of confidentiality (Anwaltsgeheimnnis) geltend gemacht werden kann, ist eine separate Frage, die man im rahmen der litigation due diligence in Ruhe klären muss. Es darf jedenfalls nichts vernichtet werden.
Stellt man als klagewillige Partei im Rahmen der vorprozessualen litigation due diligence fest, dass man etliche solcher "Leichen im Keller" hat, kann man ggf. versuchen, den Gegner zu einer Mediation oder einer Arbitration mit anderen Verfahrensregeln (ohne strenge disclosure obligation) zu bewegen. Auf keinen Fall aber - ich wiederhole mich absichtlich - dürfen Dokumente vernichtet werden. Kommt so etwas heraus (entweder durch technische Analysen des IT-Systems durch einen Sachverständigen oder weil es ein Zeuge (Mitarbeiter) später unter Eid im Kreuzverhör zugibt), drohen scharfe Strafen.
Bei signifikanten Verstößen gegen diese disclosure Pflichten kann das Gericht in weitem Ermessen Sanktionen verhängen. Hat eine Partei bereits im vorprozessualen Verfahren (pre action protocol) wichtige Informationen nicht offen gelegt, kann das englische Zivilgericht gemäß para. 15 und 16 der Practice Direction pre action conduct folgende (teure) Maßnahmen anordnen:
- Aussetzung des Verfahrens
- Auferlegung der Gerichtskosten
- Auferlegung der Anwaltskosten der Gegenseite (das sind in englischen Wirtschaftsprozessen sechsstellige Beträge)
- Aberkennung von Zinsansprüchen.
Die Partei, die nicht rechtszeitig von sich aus alles offen gelegt hat, muss also erhebliche Kosten befürchten, selbst wenn sie das Verfahren im Ergebnis gewinnt.
Noch schlimmer sind die Folgen, wenn sich herausstellt, dass eine Partei Informationen oder Dokumente auch noch im Zivilprozess selbst verheimlicht oder Dokumente bzw. Dateien vorsätzlich vernichtet hat. Das englische Gericht verhängt dann unter den Aspekten „contempt of court“ (Missachtung des Gerichts) oder „abuse of process“ noch erheblich strengere Sanktionen als "nur" negative Kostenfolgen. Insbesondere wird ein Richter dann den Vortrag einer Partei auch ohne Beweisführung als zutreffend anerkennen, einzelne Beweisangebote oder gleich die gesamte Klage verwerfen (strike out a claim), vgl. CPR r 3.4(2)(b).
Offenlegung in Wirtschaftsstreitigkeiten erfolgt elektronisch: eDisclosure
Die Offenlegung und der Austausch dieser Informationen und Dokumente geschieht heutzutage - jedenfalls bei Wirtschaftsprozessen (commercial litigation) zwischen Unternehmen in England - nicht mehr manuell durch Übersendung von Papierdokumenten, sondern in digitaler Form. Oft werden hierfür spezielle externe Dienstleister beauftragt, die die jeweiligen Firmen-IT-Server durchforsten und die als relevant erkannten Dateien in einen Online-Datenraum stellen, Stichwort "eDisclosure".
Umfang und Rahmenbedingungen finden sich in den offiziellen Praxisrichtlinien der englischen Zivilprozessordnung, insbesondere in der PRACTICE DIRECTION 31B – DISCLOSURE OF ELECTRONIC DOCUMENTS. Weitere Informationen zum Thema auch in diesem Beitrag: Offenlegungspflicht im englischen Zivilprozess.
Mehr zum Zivilprozess und Wirtschaftsstreitigkeiten (commercial litigation) in England:
- Zivilprozess in England: Warum deutsche Unternehmer eine Rechtswahl England meist bitter bereuen
- Ablauf eines Zivilprozesses am High Court in England (grafische Übersicht)
- Welches Gericht ist in England wofür zuständig?
- Gerichtsgebühren bei Zivilprozess in England
- Wie findet man den richtigen Anwalt in England?
- Warum es so umständlich ist englische Anwälte zu mandatieren
- Der Zeugenbeweis im englischen Zivilprozess
- Kein Zeugnisverweigerungsrecht in England
- Darf man Zeugen für die Gerichtsaussage coachen?
Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse (civil litigation, commercial litigation) in England. Der obige Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Der Ablauf des Zivilprozesses in England und Wales: Beweisrecht" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".

Beitragsfoto: Freepik.com Nr. 75934