24.02.2025 |

Der Zeugenbeweis im englischen Zivilprozess

Zeuge Zivilprozess England Aussageverweigerungrecht

Zeugen (witnesses of fact) im Zivilprozess in England

Hohe Praxisrelevanz des Zeugenbeweises trotz bekannter Unzuverlässigkeit

Auch in England sind Zeugenaussagen das häufigste und praktisch wichtigste Beweismittel, obwohl psychologische Untersuchungen deren Unzuverlässigkeit seit langem belegen. Die Erinnerung eines Augenzeugen ist nie identisch mit der objektiven Realität, selbst wenn der Zeuge sich nach besten Kräften bemüht und auch keine Loyalitätskonflikte die Aussage beeinflussen. Es existieren ganze Bibliotheken an psychologischer und juristischer Fachliteratur zu den Themen verzerrte oder falsche Erinnerung von Zeugen vor Gericht.

Stellvertretend für viele Bücher zu diesem Thema seien genannt: „Eyewitness Testimony“ der Psychologie-Professorin Elizabeth Loftus, Harvard University Press, Reprint Edition, 1996; sowie Dennis Howitt, „Introduction to Forensic and Criminal Psychology“, 6. Auflage, Pearson 2018, dort Kapitel 13 „Eyewitness Testimony“. Spannend und mit Bezug speziell zur Gerichtspraxis in England ist der Bericht der British Psychological Society (BPS) vom Juni 2008 mit dem Titel „Guidelines on Memory and the Law. Recommendations from the Scientific Study of Human Memory“, auf Anfrage als PDF-Datei erhältlich von der BPS www.bps.org.uk

Trotz dieser bekannten Unzuverlässigkeit und Fehleranfälligkeit von Zeugenaussagen, kommt auch in England kaum ein Zivilgerichtsverfahren ohne einen oder mehrere solcher Zeugen aus.

Zeugenfähigkeit: Wer kann in einem englischen Zivilverfahren Zeuge sein?

Im Unterschied zur deutschen ZPO (die den Prozessparteien die Zeugeneigenschaft verwehrt, § 447 ZPO), sind in einem englischen Zivilprozess auch die Parteien selbst Zeugen, oft sogar die zentralen und für den Verfahrensausgang wichtigsten Zeugen. Die Unterscheidung zwischen Zeugenvernehmung und Parteieinvernahme kennt die englische ZPO (Civil Procedure Rules, CPR) nicht, wobei das Gericht natürlich das jeweilige Eigeninteresse dieser Partei-Zeugen bei der Glaubwürdigkeitsprüfung (assessment of credibility) berücksichtigt.

Sachverständige (experts) werden oft ebenfalls als Zeugen bezeichnet. Für diese expert witnesses gelten jedoch andere prozessuale Vorschriften als für die witnesses of fact.

Die allgemeine Regel im common law ist, dass eine Person competent und compellable sein muss, um Zeuge in einem Zivilverfahren sein zu können:

  • Competent, also fähig, eine Zeugenaussage zu machen, ist prinzipiell jede natürliche Person, die in der Lage ist, die Wahrheitspflicht sowie die Bedeutung eines Eides (oath) zu verstehen und vernünftige Auskunft (rational testimony) über einen Sachverhalt zu geben. Bei Kindern ab 14 Jahren wird das vermutet, wenn keine Anhaltspunkte für das Gegenteil vorliegen. Bei Kindern unter 14 Jahren muss das Gericht zunächst prüfen, ob das individuelle Kind die hierfür nötige Reife besitzt. Ebenso bei psychisch kranken Personen (persons of unsound mind, heute meist - politisch korrekter - als "vulnerable witnesses" bezeichnet), die als Zeugen benannt werden. Der hierfür anzuwendende Test wurde in der Entscheidung R v Hayes [1977] 1 WLR 238 erstmals definiert. Selbst wenn eine solche Person als Zeuge zugelassen wird, muss das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung prüfen, wie viel Gewicht es dieser Aussage gibt.
  • Compellable, also zu einer Aussage „zwingbar“, ist prinzipell jede competent person. Ausnahmen hiervon sind im englischen Recht selten, im Wesentlichen sind ausgenommen nur Staatsoberhäupter und Diplomaten sowie – unter bestimmten Voraussetzungen – Bankmitarbeiter (Section 6 Banker’s Books Evidence Act 1879 (www.legislation.gov.uk/ukpga/Vict/42-43/11): “A banker or officer of a bank shall not, in any legal proceeding to which the bank is not a party, be compellable to produce any banker’s book the contents of which can be proved under this Act, or to appear as a witness to prove the matters, transactions, and accounts therein recorded, unless by order of a judge made for special cause.”) 

Praxishinweis für grenzüberschreitende Zivilrechtsprozesse: Auch wenn ein Zeuge prinzipiell compellable ist, kann das englische Gericht diesen nicht direkt zur Verhandlung laden (to summon a witness), wenn er im Ausland wohnt (siehe CPR r 34.13), da das englische Gericht außerhalb seiner Jurisdiktion keine hoheitlichen Befugnisse hat. Das englische Zivilgericht muss in solchen Fällen einen "letter of request" an die deutschen Behörden senden, also um Rechtshilfe ersuchen. Dieses bei internationalen Zivilstreitigkeiten sehr praxisrelevante Problem des sog. "Auslandszeugen" sollte jeder Kläger bereits bei den strategischen Vorüberlegungen sowie bei der konkreten (zeitlichen und organisatorischen Vorbereitung der mündlichen Verhandlung bedenken. Beruht die wesentliche Beweisführung einer Partei auf einem Auslandszeugen, reduziert das die Erfolgschancen erheblich, denn wen ein Auslandszeuge schlicht nicht kommt, geht das zu Lasten der diesen Zeugen benennenden Partei.

Zeugen haben im englischen Zivilprozess in aller Regel kein Aussageverweigerungsrecht

Ein gravieredender und für deutsche Anwälte verblüffender Unterschied zwischen deutschen und englischen Zivilprozessregeln ist, dass Zeugen sich in einem englischen Zivilprozess so gut wie nie auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (Aussageverweigerungsrecht) berufen können. Eine dem § 383 Abs. 1 der deutschen Zivilprozessordnung entsprechende Regelung existiert in England und Wales schlicht nicht.

Zeugen müssen somit im englischen Zivilgerichtsverfahren auch gegen sich selbst, gegen den Ehepartner, gegen Kinder, Eltern und Geschwister aussagen. Nicht einmal Geistliche (Pfarrer, Pastoren, Rabbiner, Imame etc.) können sich auf ein Aussageverweigerungsrecht berufen. Enge Ausnahmen gelten höchstens für Rechtsanwälte, aber selbst hier nur in sehr eingeschränktem Umfang.

Details zum Thema (fehlendes) Zeugnisverweigerungsrecht im englischen Zivilprozess und warum das englische Recht solche Aussageverweigerungsrechte nicht gewährt, erkläre ich in diesem Beitrag:

Auswahl und Benennung der Zeugen für den englischen Zivilprozess

Es steht den Prozessparteien frei, welche Zeugen sie für welche Tatsachen benennen und in welcher Reihenfolge sie diese Zeugen in der Verhandlung aufrufen. Auch ein Zeuge, der bereits von der Gegenseite für bestimmte Tatsachen benannt wurde, kann von der anderen Partei ebenfalls als Zeuge benannt werden, Zeugen "gehören" also nicht etwa der sie benennenden Partei (no property in a witness).

Natürlich sollte jede Partei mit ihrem Prozessvertreter (litigation solicitor) vor der Benennung eines Zeugen jeweils sorgfältig folgenden Punkte analysieren:

  • ob dieser Zeuge wirklich nötig ist (da jeder Zeuge erheblichen Arbeitsaufwand und damit Kosten verursacht); können also mehrere Personen einen bestimmten Sachverhalt bezeugen, so muss man nicht zwingend alle als Zeugen benennen, sondern sich auf einen oder maximal zwei Zeugen beschränken;
  • ob der Zeuge, falls er oder sie im Ausland wohnt, zur Anreise nach England bereit ist (zur Problematik des Auslandszeugen siehe Hinweis oben);
  • ob mit der Benennung eines Zeugen Risiken verbunden sind, etwa weil sich dieser vielleicht unkooperativ verhält oder vor Gericht einen ungünstigen Eindruck macht (z.B. sehr nervös und unsicher ist, oder aber – im Gegenteil – aggressiv und aufbrausend, wenn der gegnerische Barrister zum Kreuzverhör ansetzt), oder weil der Zeuge möglicherweise einen Loyalitätskonflikt oder eine eigene Agenda hat (konträr zu den Interessen der ihn benennenden Partei). In solchen Fällen schadet ein Zeuge möglicherweise mehr als er nützt.

Kommt man zum Ergebnis, dass man einen bestimmten Zeugen zwingend benötigt, sollte man diesen möglichst mit psychologischem Gespür und Feingefühl kontaktieren und ihm oder ihr schonend beibringen, dass für proofing (Details dazu hier), schriftliches witness statement und die spätere Vernehmung vor dem englischen Gericht etliche Stunden, bei Auslandszeugen meist sogar einige Tage an Mitwirkung nötig werden.

Handelt es sich einem Zeugen nicht um einen Angestellten der Prozesspartei, der dies während der Arbeitszeit erledigt, oder um Familienmitglieder, die ein großes Eigeninteresse am positiven Prozessausgang haben, hält sich die Begeisterung der Zeugen nämlich oft in Grenzen. Nicht selten behaupten solche Personen dann, dass sie sich an nichts mehr erinnern, um den Strapazen zu entgehen.

Schriftliches Zeugenstatement und mündliche Aussage des Zeugen im Verhandlungstermin

Im Unterschied zu Deutschland, wo die Beweisangebote und die Benennung von Zeugen ausschließlich in den anwaltlichen Schriftsätzen erfolgt, und der Zeuge erst im Termin zur mündlichen Verhandlung seine Aussage macht, müssen bei Zivilprozessen in England alle Zeugenaussagen (witness statements) bereits Monate vor der Verhandlung vollständig ausformuliert und vom jeweiligen Zeugen selbst unterzeichnet schriftlich beim Prozessgericht eingereicht sowie der Gegenpartei übermittelt werden. Das hat einen sehr disziplinierenden Effekt, denn die Zeugen müsen sich vorab auf eine präzise Version der Ereignisse festlegen und die Wahrheit schriftlich bestätigen.

Ausführlich zum Thema Erstellung des schriftlichen Zeugen-Statement in diesem Beitrag:

Für die Aussage des Zeugen in der mündlichen Verhandlung (trial) hat das schriftliche Zeugenstatement zur Konsequenz, dass die Zeugenvernehmung sofort mit dem Kreuzverhör durch den gegnerischen prozessanwalt (barrister) beginnt. Anders als in Deutschland oder in den USA erzählt der Zeuge also nicht zuerst "seine Version", sondern er wird sofort vom Gegneranwalt mit kritischen Einzel-Rückfragen zum vorab eingereichten schriftlichen witness statement traktiert. Das wissen deutsche Zeugen oft nicht und machen dann vor Gericht einen verwirrten Eindruck. Zur Vorbereitung von Zeugen (witness coaching, witness preparation) habe ich separate Beiträge geschrieben (siehe unten)

Mehr zum englische Zivilprozess, zur Beweisaufnahme und zum Ablauf der Gerichtsverhandlung in England

Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse, Familienrecht sowie grenzüberschreitende Nachlassabwicklung. Im Beck-Verlag verantwortet er den Länderbericht zum Familienrecht von England und Wales sowie das Praxishandbuch zum englischen Zivilprozess. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Der Ablauf des Zivilprozesses in England und Wales im Detail" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".

Beitragsfoto: Freepik.com (2151152424)

Kategorie: ProzessrechtWirtschaftsrechtZivilprozesseHigh CourtAnwaltsrechtCounty Court

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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