06.02.2025 |

Schriftsätze und "Bundles" in englischen Gerichtsprozessen

Die Schriftsätze der Prozessparteien im Zivilverfahren von England & Wales

Allgemeine Anforderungen an die Aufbereitung des Prozessstoffs

Wie in Deutschland, wird der Prozessstoff für das Gericht durch Schriftsätze und Anlagen aufbereitet. Das englische Prozessrecht ist hier allerdings stringenter und verlangt den Parteien und ihren Anwälten erheblich mehr ab, vor allem der Klägerseite. So ist zum Beispiel die Anzahl der Schriftsätze streng begrenzt, alle relevanten Unterlagen sind offenzulegen, vorab zwischen den Parteien auszutauschen (disclosure) und übersichtlich zu ordnen, Zeugenaussagen und Gutachten sind vorab schriftlich abzufassen und ebenfalls zwischen den Parteien auszutauschen.

In einem engen Zeitfenster kurz vor der mündlichen Verhandlung (trial), nämlich „not more than 7 days and not less than 3 days before the start of the trial“, muss die Klagepartei sämtliche Unterlagen geordnet, paginiert und mit übersichtlichem Inhaltsverzeichnis versehen dem Gericht übermitteln, das sog. trial bundle. In Papier und zusätzlich auch in elektronischer Form.

Bestandteil dieses trial bundle sind nicht nur die Schriftsätze und Dokumente, sondern hierzu gehören auch Ausdrucke der relevanten Gesetze, der einschlägigen Rechtsprechung sowie die sogenannten skeleton arguments, also eine kurze Zusammenfassung der rechtlichen Argumentation, vergleichbar einem Prüfschema zu einer juristischen Klausur (Details dazu hier).

Der Unterschied zur Zivilprozesspraxis in Deutschland ist oddensichtlich. Deutsche Rechtsanwälte verlassen sich nicht selten auf die römischen Rechtsregeln da mihi facta, dabo tibi ius. Frei übersetzt: Gib dem Gericht (nur) die Fakten, das Gericht kennt das Recht dann schon selbst. Darauf ruht sich so mancher deutsche Rechtsanwalt aus und verzichtet darauf, Urteile oder Kommentarfundstellen zu zitieren. Englische Gerichte erwarten von den Anwälten dagegen, dass der gesamte Prozessstoff inklusive der für die Entscheidung relevanten Gesetzesnormen und Urteile im trial bundle mundgerecht präsentiert werden und dass die rechtliche Argumentation im skeleton argument präzise herausgearbeitet und stichpunktartig zusammengefasst ist. Dem Gericht ist also eine vollständige, übersichtlich aufbereitete Prozessakte zu übergeben, auf deren Basis das Gericht seine Entscheidung treffen kann, im Idealfall, ohne irgendwelche weiteren Quellen konsultieren zu müssen.

Zu alldem siehe auch das BSB Handbook, insbesondere Part 2, rC3.4:

you must take reasonable steps to ensure that the court has before it all relevant decisions and legislative provisions

Wie viele Schriftsätze sind im englischen Zivilprozess zulässig?

Ähnlich wie in einem deutschen Zivilprozess tauschen die Parteien zunächst Schriftsätze aus, die statements of case. Dabei handelt es sich mindestens um:

  • Particulars of Claim (PoC), die Klagebegründung des Claimant, einzureichen zusammen mit der Claim Form; und
  • Defense, die Klageerwiderung des Defendant

In den meisten Verfahren, jedenfalls den komplexen Zivilprozessen, die im Fokus dieses Handbuchs stehen, nimmt die Klagepartei auch nochmals zur Defense Stellung durch:

  • Reply, Replik

Damit haben die Parteivertreter dann besser alle relevanten Aspekte vorgetragen, denn weitere Schriftsätze sind nach CPR r 15.9 nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Gerichts gestattet:

“A party may not file or serve any statement of case after a reply without the permission of the court.” 

Die bei deutschen Zivilgerichten nicht selten zu findende Unsitte mancher Prozessanwälte, immer noch einen Schriftsatz und noch eine Stellungnahme einzureichen, gerne am Tag vor der mündlichen Verhandlung oder gar noch im Verhandlungstermin selbst, wird von englischen Gerichten nicht toleriert.

Es gibt in England nach der Verhandlung auch keine „Schriftsatzfrist zur Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme“. Barrister können (und müssen) hierzu unmittelbar nach der Beweisaufnahme im closing statement mündlich vortragen, Schriftsätze nach der mündlichen Verhandlung sind unüblich.

Formale Anforderungen und Formatierung

Welche Art Schriftsatz oder sonstiges juristisches Dokument man vor sich hat, erkennt man am schnellsten, indem man den Titel des Dokuments zwischen sogenannten „Tramlines“ (Straßenbahnschienen) liest. Es hat sich in England traditionell eingebürgert, den Titel des Dokuments, seien es anwaltliche Schriftsätze oder Gerichtsbeschlüsse zwischen zwei Linien zu schreiben, also zum Beispiel bei einer Klagebegründung:

Das erleichtert die schnelle Orientierung, denn auf den ersten Blick sehen prozessuale Dokumente alle sehr ähnlich aus, da in England die Schriftsätze der Parteien nicht auf den Briefbögen der jeweiligen Anwaltskanzleien eingereicht werden, sondern auf neutralem Papier, das in der Kopfzeile das Gericht und das Aktenzeichen nennt. Man sieht den Schriftsätzen also – mangels Kanzleilogo – nicht sofort an, ob sie vom Kläger- oder Beklagtenvertreter stammen, sondern muss aus dem Dokumententitel darauf schließen, von welcher Partei diese stammen.

Die Absätze (paragraphs) der Schriftsätze sind in der Regel mit arabischen Ziffern durchnummeriert und andere Schriftsätze beziehen sich dann auf diese Ziffern. So finden sich in einer Defence etwa Passagen wie: „Paragraph 13 of the Particulars is admitted, but it’s relevance is denied.

Die Prozessanträge, die ja auch bereits in der Claim Form enthalten sind, finden sich in aller Regel dann noch einmal am Ende der Particulars of Claim.

Ausdrückliche Versicherung der Wahrheit durch "Statement of Truth" am Ende der Schriftsätze

Englische Gerichte sind im Hinblick auf die Einhaltung der prozessualen Wahrheitspflicht durch alle Beteiligten erheblich strenger als in Deutschland und zum Beispiel bei jeder Art „Parteivortrag ins Blaue“ hinein absolut humorlos.

Übernimmt ein deutscher Anwalt in seinen Schriftsatz ungeprüft den Sachvortrag seines Mandanten und stellt sich dieser später als falsch heraus, hat dies für den Anwalt in der deutschen Prozesspraxis in aller Regel keine Konsequenzen.

Englische Anwälte, insbesondere Barrister, unterliegen in dieser Hinsicht dagegen sehr strengen berufsrechtlichen Vorgaben (professional conduct rules). So regelt etwa das BSB Handbook in Part 2, C – Conduct Rules unter anderem (Hervorhebungen hinzugefügt):

“rC3
You owe a duty to the court to act with independence in the interests of justice
. […] It includes the following specific obligations […]: .1 you must not knowingly or recklessly mislead or attempt to mislead the court;[…]; .3 you must take reasonable steps to avoid wasting the court’s time; .4 you must take reasonable steps to ensure that the court has before it all relevant decisions and legislative provisions; […]…

rC6
Your duty not to mislead the court will include the following obligations:.1 you must not:.a make submissions, representations or any other statement; or.b ask questions which suggest facts to witnesseswhich you know, or are instructed, are untrue or misleading..2 you must not call witnesses to give evidence or put affidavits or witness statements to the court which you know, or are instructed, are untrue or misleading, unless you make clear to the court the true position as known by or instructed to you.”

Sowie speziell in Bezug auf die Erstellung von Schriftsätzen und schriftlichen Zeugenaussagen:

“rC9Your duty to act with honesty and with integrity under CD3 includes the following requirements:.1 you must not knowingly or recklessly mislead or attempt to mislead anyone;.2 you must not draft any statement of case, witness statement, affidavit or other document containing:.a any statement of fact or contention which is not supported by your client or by your instructions;.b any contention which you do not consider to be properly arguable; ...

Barristern ist es also nicht nur untersagt, wissentlich oder fahrlässig falsche Fakten vorzutragen. Sie dürfen zudem auch nicht selektiv nur günstige Rechtsprechung zitieren, sondern – siehe rC3.4 – müssen dem Gericht alle (!) entscheidungsrelevante Rechtsprechung vorlegen. Denn das Ziel ist Gerechtigkeit (justice).

In Schriftsätzen sowie später im Gerichtssaal dürfen Barrister nur vortragen, wovon sie selbst überzeugt sind. Was nicht gut vertretbar (properly arguable) ist, darf der barrister gar nicht erst vorbringen.

Für Solicitors sind die Anforderungen nicht ganz so streng wie für Barrister, aber auch für sie gilt ein Verbot, das Gericht in die Irre zu führen, SRA Code of Conduct, para. 1.4:

“You do not mislead or attempt to mislead your clients, the court or others, either by your own acts or omissions or allowing or being complicit in the acts or omissions of others (including your client).”

Ein Solicitor darf somit in den Schriftsätzen keine falschen Informationen vortragen oder dulden, dass Zeugen dies tun. Erfährt ein Anwalt von seinem Mandanten, dass dieser gegenüber dem Gericht gelogen oder wesentliche Aspekte verschwiegen hat, muss der Anwalt darauf hinwirken, dass dies gegenüber dem Gericht richtiggestellt wird. Ist der Mandant hierzu nicht bereit, wird ein Solicitor in der Regel das Mandat niederlegen, um die Gefahr berufsrechtlicher Sanktionen zu vermeiden.

Um neben den Anwälten auch die Parteien selbst diesbezüglich zu disziplinieren, müssen gemäß CPR r 22.1 alle Schriftsätze am Ende jeweils ein förmliches „statement of truth“ enthalten, das der Kläger bzw. der Beklagte persönlich unterschreiben muss. Den Wortlaut gibt die korrespondierende PD 22, 2.1 vor wie folgt:

Statement of Truth:
I believe that the facts stated in this [name of document being verified] are true. I understand that proceedings for contempt of court may be brought against anyone who makes, or causes to be made, a false statement in a document verified by a statement of truth without an honest belief in its truth.[signature of claimant or defendant / date]

Fehlt eine solche „verification“, und liefert die Partei diese auch nicht nach, kann das englische Zivilgericht den gesamten Schriftsatz verwerfen (strike out), CPR r 22.2(2).

Fazit: Prozessanwälte in England unterliegen viel strengeren Regeln als ihr deutschen Kollegen

Sie führen die Prozessakte, müssen dem Gericht alle Materialien und relevanten Gerichtsentscheidungen "mundgerecht aufbereiten" und sind der Wahrheit mindestens ebenso stark verpflichtet wie ihrem Mandanten.

Weitere Informationen zum englische Zivilprozess und Anwaltsrecht in UK

Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse, Familienrecht sowie grenzüberschreitende Nachlassabwicklung. Im Beck-Verlag verantwortet er den Länderbericht zum Familienrecht von England und Wales sowie das Praxishandbuch zum englischen Zivilprozess. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Der Ablauf des Zivilprozesses in England und Wales im Detail" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".

Beitragsfoto von Wesley Tingey auf Unsplash.com

Kategorie: ProzessrechtStrafrechtZivilprozesseStrafverfahrenHigh CourtCrown CourtMagistrates CourtAnwaltsrechtCounty Court

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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