19.02.2025 |

Was bedeutet "proofing of witness" im englischen Zivilprozess?

Die Ausarbeitung der schriftlichen Zeugenaussage als Beweismittel im Zivilverfahren in England

Englische Prozessanwälte fragen ihre Zeugen Monate vor der Verhandlung: "Tell me everything you remember!"

Zeugenaussagen (witness statements) werden im englischen Zivilprozess bereits einige Monate vor der mündlichen Verhandlung (trial) schriftlich bei Gericht eingereicht und der Gegenseite übermittelt. Der Zeuge formuliert in diesem schriftlichen witness statement "in his or her own words" (siehe Practice Direction 32, para. 18.1) den relevanten Sachverhalt und versichert am Ende durch seine Unterschrift ausdrücklich die Richtigkeit. Anders als in Deutschland gibt es in England somit in der mündlichen Verhandlung keine Überraschungen, was der Zeuge aussagen wird.

Das geht so weit, dass der Zeuge vor einem Gericht in England (anders als in USA) seine Zeugenaussage gar nicht mehr mündlich vorträgt, sondern nur auf seine schriftlichen Ausführungen verweist. In der Praxis bedeutet dies, dass der Zeuge sofort nach seiner Vereidigung vom gegnerischen Anwalt ins Kreuzverhör genommen wird (cross examination). Da werden manche Zeugen kalt erwischt, weil es quasi keine "Aufwärmphase" gibt. Hat der Zeuge seine schriftliche Stellungnahme vor dem Kreuzverhör nicht noch einmal sorgfältig gelesen, oder ist die schriftliche Zeugenaussage gar schlampig erstellt, dann kommt so mancher Zeuge vor dem englischen Zivilgericht ins Schwitzen. 

Das schriftliche "witness statement" muss absolut präzise und korrekt sein

Dieser Ablauf der mündlichen Verhandlung vor einem englischen Zivilgericht (die Zeugenvernehmung beginnt in England sofort mit dem Kreuzverhör durch den Gegneranwalt) macht deutlich, warum das witness statement von professionellen Prozessanwälten in England so unglaublich sorgfältig erarbeitet wird.

Schriftliche Zeugenaussagen werden – sofern sie nicht sehr kurz und einfach sind – meist in zwei getrennten Schritten erstellt. Bevor das eigentliche witness statement formuliert und unterzeichnet wird, erarbeiten Solicitors mit den „eigenen“ Zeugen (sofern sie „friendly“ oder wenigstens „cooperative“ sind) eine umfassende Stoffsammlung, genannt „proofing of witness“ (auch „proof of evidence”). Der den Zeugen benennende Solicitor oder (häufiger) ein Paralegal der Kanzlei geht hierfür in einem ausführlichen Meeting mit dem Zeugen alles durch, was dieser über den prozessrelevanten Sachverhalt weiß, welche Unterlagen, Fotos, sonstige Beweismittel etc. er hierzu vielleicht hat und welche sonstigen Hinweise der Zeuge noch geben kann, etwa zu weiteren Personen die ggf. ebenfalls als Zeugen in Frage kommen. Es wird also die gesamte Erinnerung des Zeugen ausgeleuchtet. Ebenso Hintergründe, Querverbindungen, Loyalitäten und etwaige Eigeninteressen der verschiedenen Akteure.

In komplexen Prozessen, vor allem Wirtschaftsverfahren, löst allein das "proofing of witnesses" Kosten im hohen fünfstelligen oder gar im sechsstelligen Bereich aus. Noch schlimmer in internationalen Wirtschaftsprozessen, da die Aussagen der Zeugen hin und her übersetzt werden müssen. Jeder Zeuge soll nämlich in seiner Muttersprache befragt werden und später auch vor Gericht in seiner Muttersprache aussagen. Selbst wenn ein Zeuge passables oder sogar gutes Englisch spricht, ist es üblich, das proofing of witness und das witness statement jeweils zuerst in der Muttersprache zu erstellen und dann durch einen vereidigten Übersetzer ins Englische zu übersetzen, bevor es bei Gericht eingereicht wird.

Mehr zum englische Zivilprozess, zur Beweisaufnahme und zum Anwaltsrecht in England

Der Autor ist Experte für deutsch-englische Rechtsfälle, insbesondere internationale Zivil- und Wirtschaftsprozesse, Familienrecht sowie grenzüberschreitende Nachlassabwicklung. Im Beck-Verlag verantwortet er den Länderbericht zum Familienrecht von England und Wales sowie das Praxishandbuch zum englischen Zivilprozess. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Kapitel "Der Ablauf des Zivilprozesses in England und Wales im Detail" des Praxisleitfadens "Der Zivilprozess in England".

Zeugenbeweis im englischen Zivilprozess Expertes englisches Recht Rechtsanwalt Schmeilzl

Beitragsfoto: Freepik.com (40666)

Kategorie: ProzessrechtWirtschaftsrechtZivilprozesseHigh CourtAnwaltsrechtCounty Court

Autor
Bernhard Schmeilzl

Bernhard Schmeilzl

Rechtsanwalt & Master of Laws

+49 (0) 941 463 7070 schmeilzl@grafpartner.com

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